Frage an Thomas Gambke von Andreas H. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrter Dr. Gambke,
lt. Aussage von Frau Katja Kipping, Arbeitsmarktpolitischen Sprecherin der Linken, verweigert die Bundesspitze der Partei Bündnis 90 / Die Grünen die Unterstützung der Einreichung einer Normenkontrollklage zur verfassungsrechtlichen Überprüfung der Hartz IV Regelsätze.
Ist diese Aussage richtig?
Wie ist Ihre Meinung zur Verweigerungshaltung der Bundesspitze?
Mit freundlichen Grüßen
Andreas Held
Sehr geehrter Herr Held,
am 9. Februar 2010 stellte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) fest, dass bei der Ermittlung der Regelbedarfe im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) sowohl Artikel 1 des Grundgesetzes (Menschenwürde) als auch Artikel 20 GG (Sozialstaatsgebot) nicht hinreichend beachtet wurde. Die Höhe des Arbeitslosengelds II (ALG II) sei nicht transparent, gar willkürlich berechnet worden. Dies war zweifellos eine herbe Abreibung gerade auch für die SPD und Bündnis 90/Die Grünen, in deren Regierungsverantwortung die Festsetzung der Regelsätze fällt.
Umso sorgfältiger begaben sich die Grünen zum Jahreswechsel 2010/2011 in das Vermittlungsverfahren zum Gesetz zur Neufestsetzung der Regelbedarfe – zumal nach 2005 die grüne Partei und Fraktion selbstkritisch Fehler bei den so genannten „Hartz-Reformen“ zugegeben hatte. Ein Parteitag im Jahr 2007 kritisierte im Rahmen einer Rückschau auf die rot-grüne Regierungszeit ausdrücklich auch die Höhe der Regelsätze. Am Ende eines langen Vermittlungsverfahrens hatten Bündnis 90/Die Grünen auch gegenüber der Neuberechnung der Regelsätze durch die schwarz-gelbe Bundesregierung große verfassungsrechtliche Bedenken. Zu rigoros wurde an mehreren Stellschrauben gedreht, um den Betrag künstlich herunter zu rechnen. Insbesondere eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist nach den aktuellen Monatsbeträgen kaum möglich: Ob Strom, Monatskarte oder Internet, überall müssen Hilfeempfänger draufzahlen. In keinem einzigen Punkt war die schwarz-gelbe Koalition zu Zugeständnissen bereit. Bündnis 90/Die Grünen hatten daher dem neuen Regelsatz im Bundesrat und Bundestag die Zustimmung verweigert.
Mit den verfassungsrechtlichen Bedenken stand dann die Möglichkeit einer so genannten Normenkontrollklage (NKL) vor dem BVerfG im Raum. Um diese einzureichen bedarf es aber der Unterschriften von mindestens 25 % der Mitglieder des Deutschen Bundestags und damit einer Zusammenarbeit mit der SPD, da Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion „Die Linke“ zusammen das Quorum nicht erreichen. Da die SPD allerdings dem neuen Verfahren zur Regelsatzermittlung zugestimmt hatte, wäre besonderes politisches Fingerspitzengefühl angebracht gewesen, um der SPD-Fraktion trotzdem eine halbwegs gesichtswahrende Teilnahme an einer NKL zu ermöglichen. Wenn man in der Sache etwas hätte erreichen wollen, hätte man unter Hintanstellung eigener kurzfristiger Positions- und Imagegewinne einen vertraulichen kooperativen Weg gehen müssen.
Genau dies hat die Linkspartei bewusst nicht getan: Es ging ihr von vorneherein darum die konkurrierenden Oppositionsfraktionen zu düpieren. In der Sache gab es offensichtlich kein ernsthaftes Interesse an Zusammenarbeit. Die tatsächlichen Probleme der ALG II-Beziehenden waren faktisch nur Mittel zum Zweck der politischen Abgrenzung gewesen. In gewisser Weise ist das Verhalten der Linkspartei erklärbar: Diese trieb und treibt die Sorge um, ihr Selbstbild als (einzige) Schutzpartei für Hartz IV-Empfänger könnte Schaden nehmen. Der energische Einsatz insbesondere der Grünen für korrekt berechnete und mithin höhere Regelsätze beunruhigt die Linkspartei spürbar – zumal Bündnis 90/Die Grünen auch ihre Glaubwürdigkeit in den Verhandlungen bewiesen, da sie dem mickrigen Kompromiss zwischen Regierungsfraktionen und SPD letztlich nicht zustimmten und die Verhandlungen im Vermittlungsausschuss verließen. Da es in der inhaltlichen Bewertung der Regelsätze kaum Unterschiede zwischen Grünen und Linkspartei gibt, sucht man dort verzweifelt nach Vorwänden, um den Grünen ihre Glaubwürdigkeit abzusprechen und findet sie in diesem Fall in der scheinheilig, mindestens aber ungeschickt vorgetragenen Forderung nach der Normenkontrollklage. Das ist Politik für die Galerie, aber nicht für die Betroffenen. Und weil der Linkspartei nichts Besseres einfällt, hat sie die Aufforderung nach der Normenkontrollklage im September wiederholt. Inzwischen liegt aber auch ein Verfahren des SG Oldenburg vor dem Bundessozialgericht (B 14 AS 131/11 R) und wird dem BVerfG vorgelegt werden.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Thomas Gambke