Frage an Sylvia Kotting-Uhl von Harald W. bezüglich Wirtschaft
Sehr geehrte Frau Kotting-Uhl,
Ludwig Erhard schrieb 1957 in seinem berühmten Buch "Wohlstand für Alle", S. 7:
"... So wollte ich jeden Zweifel beseitigt wissen, daß ich die Verwirklichung einer Wirtschaftsverfassung anstrebe, die immer weitere und breitere Schichten unseres Volkes zu Wohlstand zu führen vermag. Am Ausgangspunkt stand da der Wunsch, über eine breitgeschichtete Massenkaufkraft die alte konservative soziale Struktur endgültig zu überwinden.
Diese überkommene Hierarchie war auf der einen Seite durch eine dünne Oberschicht, welche sich jeden Konsum leisten konnte, wie andererseits durch eine quantitativ sehr breite Unterschicht mit unzureichender Kaufkraft gekennzeichnet. Die Neugestaltung unserer Wirtschaftsordnung musste also die Voraussetzungen dafür schaffen, daß dieser einer fortschrittlichen Entwicklung entgegenstehende Zustand und damit zugleich auch endlich das Ressentiment zwischen ´arm´ und ´reich´ überwunden werden konnten. Ich habe keinerlei Anlaß, weder die materielle noch die sittliche Grundlage meiner Bemühungen mittlerweile zu verleugnen. Sie bestimmt heute wie damals mein Denken und Handeln."
Was meinen Sie, sind wir heute dem Ziel breiter Massenkaufkraft näher gekommen oder haben wir eher wieder eine Spaltung der Gesellschaft wie in den 1920er Jahren in wenige Superreiche und dem Rest der Gesellschaft ohne bedeutende Kaufkraft?
Fühlen Sie sich den Zielen Ludwig Erhards verpflichtet / sympathisieren Sie damit / treten Sie aktiv dafür ein?
Was denken Sie, wie viel Euro pro Kopf oder Haushalt sind heute das Maß, um das Ziel Ludwig Erhards von breiter Massenkaufkraft als erreicht ansehen zu können?
Mit freundlichen Grüßen
dr. wo
Sehr geehrter Herr Wozniewsky,
ich würde nicht von einer Spaltung der Gesellschaft in wenige Superreiche und dem Rest ohne bedeutende Kaufkraft sprechen. Allerdings sind wir deutlich auf dem Weg in die sogenannte 2/3-Gesellschaft, d.h. ein Teil der Bevölkerung wird von der gesellschaftlichen Teilhabe - die sich in einer Konsum-Gesellschaft natürlich auch stark über Kaufkraft definiert - ausgeschlossen. Insofern bewegen wir uns von dem originären Ziel der von Ludwig Erhard verankerten sozialen Marktwirtschaft weg. Das ist keine "gefühlte" Einschätzung, sondern lässt sich anhand von Zahlen belegen. So stellt der jüngste Armuts- und Reichtumsbericht fest, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland beständig weiter öffnet. Im letzten erfassten Jahr 2003 lebten 13,9% der Familien in Deutschland unter der Armutsgrenze. In absoluter Zahl ausgedrückt: Mehr als 11 Millionen Bundesbürger gelten nach der EU-Definition als arm. Als Hauptursache wird die Arbeitslosigkeit genannt. Die ist in den letzten im Armutsbericht noch nicht erfassten Jahren zwar zurück gegangen, bei genauem Hinsehen stellt man aber fest, dass der Großteil der neu geschaffenen Arbeitsplätze unter den Begriff "prekäre Beschäftigung" wie Leiharbeit oder Minijobs fällt, die die Kaufkraft selten entscheidend verbessern. Die niedrigen Einkommen in unserem Land stagnieren seit 20 Jahren oder gehen sogar zurück, während die hohen Einkommen in diesem Zeitraum um bis zu 40% gestiegen sind.
Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen haben sich seit Ludwig Erhard durch Globalisierungsdruck und Produktivitätssprünge verändert. Überdies ist die ökologische Problemstellung dazu gekommen die sich in Instrumenten mit denen der Markt reguliert wird noch kaum niederschlägt. Das Ziel einer ökonomischen Ausgewogenheit innerhalb der Gesellschaft ist heute schwerer zu erreichen, aber unverändert richtig. Ich bin auch absolut der Meinung, dass die Regierung hier zu wenig tut. Das Mindeste ist die Einführung eines Mindestlohns und die Anhebung des ALG2-Regelsatzes auf das Existenzminimum von 420 Euro. Unsere Konzepte für eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft, z.B. das Fördern einer zukunftsfähigen dezentralen mittelständisch organisierten Energieversorgung statt der ökologisch verheerenden Konzernpolitik der schwarz-roten Koalition würden darüber hinaus für die Ausweitung Existenz sichernder nicht globalisierbarer Arbeitsplätze sorgen. Insofern wäre eine rein grüne Wirtschaftspolitik eher die Fortführung der Bemühungen Ludwig Erhards als das was schwarz-rot uns bietet.
Mit freundlichen Grüßen
Sylvia Kotting-Uhl