Frage an Stephan Thomae von Hartmut E. bezüglich Finanzen
Sehr geehrter Herr Thomae,
wenn ich über die Kosten für Stuttgart 21 lese, bin ich entsetzt. Insbesondere deshalb weil für andere Bahnprojekte, auch in Bayern keine Geld mehr vorhanden ist. Ich verweise hierzu auch auf den heutigen Beitrag von Bayern 2 Radio. Ich sehe auch, dass z. B. kein Geld für die Elektrifizierung der Strecke Ulm - Kempten - Lindau vorhanden ist. Die Bahn gehört doch dem Bund und damit kann auch der Bund entscheiden, welche Projekte vorrangig sind.
Mich würde interessieren, wie Sie zu dem Projekt Stuttgart 21 im Zusammenhang mit den fehlenden Mitteln für andere Bahnprojekte stehen.
Mit freundlichen Grüssen
Hartmut Eppel
Sehr geehrter Herr Eppel,
vielen Dank für Ihre Anfrage vom 21. August 2010, die Sie an mich gestellt hatten.
Sie hatten mich dabei um meine Meinung im Hinblick auf die fehlenden Gelder für andere Infrastrukturprojekte der Bahn gebeten.
Erlauben Sie mir, zunächst die Aufteilung der Herkunft der Mittel für den Neubau des Hauptbahnhofs Stuttgart in Gestalt eines unterirdischen Durchgangsbahnhofs an Stelle des heutigen oberirdischen Kopfbahnhofs Stuttgart, der aus dem Jahr 1928 stammt, darzulegen:
Deutsche Bahn AG: 1.469,0 Mio Euro
Bund: 1.229,4 Mio Euro
Land Baden-Württemberg: 823,8 Mio Euro
Landeshauptstadt Stuttgart: 238,5 Mio Euro
Flughafen Stuttgart GmbH: 227,2 Mio Euro
Verband Region Stuttgart: 100,0 Mio Euro
Summe: 4.087,9 Mio Euro
Diese Finanzplanung ist auf eine Bauzeit von zehn Jahren gerechnet. Die Bundesmittel von rund 1,23 Mrd Euro bedeuten also eine jährliche Belastung von ca. 123 Mio Euro pro Jahr für den Verkehrsetat des Bundes. Im Vergleich dazu beträgt der gesamte derzeitige Investitionsetat rund 9,75 Mrd Euro pro Jahr.
Diese Summen muten zwar immer noch gewaltig an, aber die Aufteilung zeigt bereits, daß nur ein Teil dieser knapp 4,1 Mrd Euro für andere Bahnprojekte frei würde, wenn die Baugenehmigung zurückgenommen und die geschlossenen Verträge gekündigt und rückabgewickelt werden müssten. Der Verband Region Stuttgart, die Flughafen Stuttgart GmbH, die Landeshauptstadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg würden ihren Anteil von 1.389,5 Mio Euro nicht in andere Bahnprojekte des Bundes bzw. Infrastrukturmaßnahmen der Deutschen Bahn AG umschichten. Der Anteil des Bundes von 1.229,4 Mio Euro verbliebe zwar grundsätzlich im Haushalt des Bundesministers für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung; wie es dort aber verwendet würde, müsste bei den Haushaltsberatungen geklärt werden; nach meiner Einschätzung würde dieser Betrag jedenfalls nicht in voller Höhe bei Maßnahmen für die Bahn bleiben. Die Deutsche Bahn AG selbst würde ihren Anteil von 1.469 Mio Euro selbstverständlich anderweitig einsetzen; allerdings wurde seit Beginn der Planung für den neuen Stuttgarter Hauptbahnhof im Jahr 1995 in den alten Kopfbahnhof so gut wie nicht mehr investiert; der Renovierungsstau von gut 15 Jahren würde bei einer Aufgabe des Projektes Stuttgart 21 zumindest einen ganz erheblichen Teil dieses Betrages, nach Angaben der Deutschen Bahn AG sogar einen darüberhinausgehenden Betrag verschlingen; seriöse Schätzungen gehen von einem fiktiven Sanierungsbedarf von rund 1 Mrd Euro aus. Dazu kommt, daß im Falle einer Kündigung und Rückabwicklung der im Jahr 2005 vom damaligen Bundesverkehrsminister Tiefensee (SPD) abgeschlossenen Verträge Schadensersatzansprüche in Höhe von rund 1,4 Mrd Euro nach sich ziehen würden. Jedenfalls aber würde ein Abrücken von dem Projekt Stuttgart 21 nicht bedeuten, daß die Strecke München-Kempten-Lindau elektrifiziert würde. Hier ist die Entscheidung bekanntlich zugunsten einer Elektrifizierung der Strecke München-Memmingen-Lindau gefallen.
Andere Bahnprojekte bleiben auf der Agenda: Vor wenigen Tagen hat der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus mit dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn AG, Rüdiger Grube, den Ausbau und die Unterstützung von Regionalbahnstrecken angekündigt. Auch weitere Baumaßnahmen werden mit Landesgeld vorzufinanziert. So soll die sog. „Gäubahn“ (Stuttgart-Singen) auf einer Teilstrecke zweigleisig werden. Diese Strecke will das Land mit 800 000 Euro vorfinanzieren. Des weiteren soll die sog. „Südbahn“ (Ulm-Friedrichshafen) elektrifiziert werden. Auch hier beteiligt sich das Land an der Finanzierung. Mit Unterstützung kann auch die Stadt Offenburg rechnen. Dort wird die so sog. „Rheintalbahn“ für den Güterverkehr um zwei Gleise erweitert.
Wie Sie sehen werden selbstverständlich unabhängig von dem Bahnprojekt Stuttgart 21 in Baden-Württemberg auch weitere Infrastrukturmaßnahmen der Bahn finanziert.
Der Neubau eines unterirdischen Durchgangsbahnhofs in Stuttgart und der Neubau einer Hochgeschwindigkeitsverbindung Ulm-Wendlingen-Stuttgart müssen dabei auch einer Gesamtbetrachtung unterzogen werden. Zwar handelt es sich formell und zwei getrennte und auch isoliert durchführbare Maßnahmen. Im Interesse einer zukunftsorientierten Attraktivitätssteigerung der Bahn wäre der Neubau einer Hochgeschwindigkeitsstrecke Ulm-Wendlingen-Stuttgart ohne den Bau des Durchgangsbahnhofes jedoch Stückwerk.
Wer die Konkurrenzfähigkeit des Bahnreisens im Wettbewerb mit dem Autofahren oder dem Fliegen erhöhen will, muß das Reisen mit der Bahn insgesamt attraktiver gestalten. Dies leistet der geplante Bahnhofsneubau in Stuttgart:
Im Vergleich zu dem veralteten Kopfbahnhof Stuttgart wird der geplante unterirdische Durchgangsbahnhof ein moderner, einladender Bahnhof, der als Visitenkarte der Bahn mehr Reisende anzieht als der momentane, abstoßende und veraltete Hauptbahnhof.
Auch ein dichter Zugtakt und kurze Verweildauern an Bahnhöfen gehören zur Attraktivität einer modernen Bahn. In einem Durchgangsbahnhof kann eine höhere Zahl von Zügen in kürzeren Abständen abgefertigt werden.
Für Schwaben und das Allgäu ist Eisenbahnstrecke München-Augsburg-Ulm-Stuttgart seit Bestehen ein Lebensnerv. Mit dem Neubau einer schnellen ICE-Strecke Ulm-Wendlingen-Stuttgart halbiert sich die Fahrtzeit von Stuttgart nach Ulm von 54 Minuten auf 28 Minuten. Der Flughafen Stuttgart ist dann von Schwaben aus mit der Bahn direkt zu erreichen, während derzeit zunächst der Hauptbahnhof Stuttgart angefahren und dann eine S-Bahn vom Hauptbahnhof Stuttgart zum Flughafen Stuttgart genommen werden muß. Der Neubau schließt darüberhinaus eine Hochgeschwindigkeitslücke auf der Transeuropaverbindung Paris-München-Wien-Budapest.
Derzeit konkurriert die durch Schwaben führende ICE-Strecke Frankfurt-Mannheim-Stuttgart-Ulm-Augsburg-München stark mit der an Schwaben vorbeiführenden ICE-Strecke Frankfurt-Würzburg-Nürnberg-München. Der Neubau einer Hochgeschwindigkeitsstrecke macht die durch Schwaben führende Strecke attraktiver und wettbewerbsfähiger. Anderenfalls droht Schwaben in der Anbindung an das Fernverkehrsnetz der Bahn zurückzufallen. Für die wirtschaftliche Zukunft unserer Region ist die Verkehrsachse von West- nach Osteuropa mittel- und langfristig gesehen von Bedeutung! Dies darf in der aktuellen Diskussion nicht untergehen.
Ich persönlich bin daher nach wie vor für die Realisierung des Projekts Stuttgart 21.
Gerne stehe ich Ihnen auch dabei weiterhin zur Diskussion zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Stephan Thomae