Frage an Stephan Kühn von Matthias Z. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Warum stimmten Sie grundgesetzwidrig dem ESM und dem Fiskalpakt zu? Haben Sie wirklich verstanden, was Sie da mit JA abgestimmt haben?
mfg m.zeller
Sehr geehrter Herr Zeller,
ich bin mir nicht sicher, ob Ihre Frage, ob ich verstanden hätte, was ich am 29. Juni im Deutschen Bundestag abgestimmt habe, nur die übliche Politikerschelte ist oder ob Sie wirklich an einer Antwort interessiert sind. Selbstverständlich sind mir die Tragweite und die Gegenstände der Entscheidung bekannt. Über ESM und Fiskalpakt habe ich nicht nur intensiv in der Fraktion, sondern auch mit Experten und Bürgerinnen und Bürgern diskutiert. Der Streit unter den Gelehrten hat gezeigt, wie schwierig die Materie ist. Ich habe in den zurückliegenden Monaten regelmäßig Veranstaltungen zur Eurokrise in Sachsen organisiert und mit Interessierten diskutiert. Ich lasse mir nicht vorwerfen, mich neben meinen fachpolitischen Aufgaben und Verpflichtungen nicht intensiv mit diesen Frage auseinander gesetzt zu haben. Außerdem fühle ich mich in meiner Haltung durch die Feststellungen des Bundesverfassungsgerichtes bestätigt.
Gerne nenne ich Ihnen Gründe, warum ich insbesondere für ESM gestimmt habe: Mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) schaffen die Euro-Mitgliedsstaaten eine dauerhafte Finanzinstitution, der alle Euro-Staaten angehören werden. Der ESM soll die neuen EU-Instrumente im Bereich der wirtschaftspolitischen Steuerung ergänzen, wie beispielsweise die reformierten Verfahren des Stabilitäts- und Wachstumspaktes oder das neue Verfahren zur Vermeidung und Korrektur von makroökonomischen Ungleichgewichten. Aufgabe des Rettungsschirms ist es, am Markt Geld aufzunehmen und Stabilitätshilfen zu günstigeren Konditionen an Euro-Staaten mit gravierenden Finanzierungsproblemen weiterzugeben. Hilfen werden laut Vertrag nur gewährleistet, wenn diese „zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Währungsgebietes insgesamt und seiner Mitgliedsstaaten unabdingbar“ sind. Die Hilfe ist mit Auflagen für das jeweilige Land verbunden. Diese Auflagen werden im sogenannten Memorandum of Understanding (MoU), einer politischen Absichtserklärung, festgehalten und die Umsetzung vierteljährlich durch die Europäische Kommission in Zusammenarbeit mit der Europäischen Zentralbank (EZB) und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) überprüft. Vom Ergebnis dieser Überprüfungen hängt ab, ob das betroffene Land die nächste Teilzahlung erhält. Selbst wenn der Bundestag und andere Parlamente Hilfen grundsätzlich zugestimmt haben, können diese eingestellt werden, wenn eine Überprüfung negativ ausfällt. Zudem wird bewertet, ob die Staatsverschuldung tragfähig ist. Hierzu erstellt die Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF eine Schuldentragfähigkeitsanalyse. Entsprechend der IWF-Praxis findet in Ausnahmefällen eine Privatgläubigerbeteiligung statt. Ich unterstütze den ESM, weil er ein zentrales Prinzip beinhaltet: Es gibt nur Hilfe gegen Auflagen. Diese Konditionierung bedeutet, dass der ESM nur greift, wenn die hilfebedürftigen Mitgliedsstaaten vorab getroffene Vereinbarungen auch einhalten. Außerdem werden die Kredite nur dann vergeben, wenn der Empfänger seine Schulden auch tatsächlich tragen kann. Das wird in einer sogenannten Schuldentragfähigkeitsanalyse überprüft. Überdies steht die Gewährleistungshöhe fest. Ein Fass ohne Boden ist der ESM auch deswegen nicht, weil die Summe der deutschen Gewährleistungen klar begrenzt ist auf 190 Milliarden Euro. Über diese Summe entscheidet der Deutsche Bundestag und sie kann nicht überschritten werden. Außerdem ist eine zweimalige Zustimmung des Plenums notwendig, bevor ein Land unter den Rettungsschirm kommt. In der ersten Abstimmung wird die Frage beantwortet, ob man einem Land grundsätzlich Hilfen gewähren möchte. Nach Ausarbeitung eines konkreten Hilfsprogramms mit entsprechenden Auflagen für den empfangenden Staat muss erneut abgestimmt werden, ob das konkrete Programm so verabschiedet werden darf.
Ich wehre mich vehement gegen die Stimmen, die den ESM als ein Instrument sehen, welches die Haushaltssouveränität des Deutschen Bundestages beschneidet. Der Bundestag hat selbstverständlich weiterhin das Recht, über jede Hilfe souverän zu entscheiden und diese gegebenenfalls auch abzulehnen. Die Abstimmungen binden den deutschen Vertreter im ESM-Gouverneursrat, in seinem Abstimmungsverhalten. Dies gilt sowohl für einzelne Programme, als auch für eine mögliche Aufstockung des ESM. Alle haushaltsrelevanten Entscheidungen unterliegen damit dem verfassungsrechtlichen gebotenen Parlamentsvorbehalt. Deutschland allein hat in einer globalisierten Welt auf Dauer kein Gewicht – um politischen Handlungsspielraum zurückzugewinnen brauchen wir eine handlungsfähige und starke Europäische Union. Der ESM kann aber nur ein Baustein hin zu einer krisenfesten finanz-, haushalts- und wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit in der EU sein. Gleichzeitig müssen wir an der institutionellen Fortentwicklung der EU arbeiten. Langfristig müssen dafür tatsächlich auch Entscheidungsbefugnisse in der Fiskalpolitik auf die Gemeinschaftsebene einer EU überführt werden. Ein demokratischerer Aufbau der EU mit einem stärkeren Parlament liefert dabei die Grundlage für eine entsprechende Kompetenzübertragung.
Mit freundlichen Grüßen
Stephan Kühn