Frage an Stephan Kühn von Glenn W. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrter Herr Kühn,
bitte erläutern Sie mir Ihre Einstellung zum Kriegseinatz der Bundeswehr in Afghanistan. Sind Sie persönlich der Meinung, dass es sich bei diesem Einsatz um einen Hilfs- oder einen Kriegseinsatz handelt und welches politische/wirtschaftliche Interesse der Bundesrepublik Deutschland sehen Sie innerhalb dieses Einsatzes gewahrt. Falls Sie die Zeit finden, würde ich mich über eine Antwort zur selben Fragestellung, bezogen auf den Bundeswehreinsatz in den Gewässern vorm Horn von Afrika, freuen.
Vielen Dank für Ihr Bemühen,
Glenn Weber.
Sehr geehrter Herr Weber,
aus aktuellem Anlass habe ich mit weiteren Grünen-BundestagskandidatInnen die folgende Stellungnahme zur Afghanistan-Politik formuliert, die ich Ihnen hiermit zur Kenntnis geben möchte.
Stellungnahme Grüner BundestagskandidatInnen zur Afghanistan-Politik
Wir sehen die Notwendigkeit, uns im Wahlkampf zum Thema „Afghanistan“ zu äußern. Gerade jetzt, nach dem tödlichen Bombenangriff der NATO auf zwei von den Taliban gekaperte Tanklaster, bei dem Dutzende Menschen getötet wurden und es offenbar auch zu zahlreichen zivilen Opfern kam, ist es notwendig, klar Position zu beziehen. Wir möchten Ihnen in einem kurzen Text mitteilen, was wir unter einer verantwortungsvollen Afghanistanpolitik verstehen und an welche Voraussetzungen wir unser Abstimmungsverhalten zum ISAF-Mandat im Deutschen Bundestag knüpfen werden.
Dabei stehen wir vor dem Problem, dass die Bundesregierung dem Parlament und der Öffentlichkeit nach wie vor wichtige Informationen vorenthält, die notwendig wären, um sich ein Gesamtbild der Situation zu verschaffen. Nach dem, was wir bisher wissen, und gestützt auf das jahrelange grüne Afghanistan-Engagement kommen wir zu folgender Einschätzung:
- Mit dem von der Bundeswehr angeforderten Luftangriff bei Kunduz hat eine Gewalteskalation stattgefunden, die wir Grünen nicht mittragen können. Seit Jahren warnen wir vor einem Scheitern von ISAF, wenn der Schutz der Zivilbevölkerung nicht absolute Priorität hat.
- Über den aktuellen Vorfall hinausgehend kritisieren wir die immer wieder vorkommenden massiven Luft- und Artillerieangriffe von NATO und USA, die Opfer unter der afghanischen Zivilbevölkerung fordern. Ein solches militärisches Vorgehen ist für uns nicht akzeptabel. Für uns gilt: Jedes Menschenleben ist gleichermaßen schützenswert.
- Wir kritisieren das Wegducken von Bundeskanzlerin Merkel und Bundesaußenminister Steinmeier sowie das Schönreden von Bundesverteidigungsminister Jung zur Lage Afghanistan. Die Bundesregierung verharmlost den Bundeswehreinsatz und verweigert eine politische Diskussion über dessen Ziele und Ausmaß. Nach dem tödlichen Luftangriffen der NATO in Kunduz ist nicht mehr zu übersehen: Die Informationspolitik der Bundesregierung ist ein Desaster. Der Einsatz wird nur verwaltet. Es fehlt der politische Wille und die Kraft dieser Bundesregierung für einen echten Strategiewechsel hin zu einer Logik die da lautet: Zivil vor Militär. Diesen öffentlichen Diskurs haben wir Grünen immer wieder eingefordert. Die Bundesregierung aber hat sich blind, taub und stumm zur verschärften Situation in Afghanistan verhalten – jetzt geht das Kämpfen, ja auch der Krieg, in eine weitere Phase – und die Bundesregierung versagt in ihrer politischen Verantwortung.
- Wir kritisieren Halbwahrheiten in Bezug auf die Lage in Afghanistan. Wenn deutsche Soldaten in der Provinz Kunduz nach sieben Jahren deutschem Einsatz jetzt erstmalig im Kampf Menschen töten, wie in den Gefechten der letzten Zeit geschehen, und wenn es Anzeichen dafür gibt, dass für die Taliban der Raum Kunduz strategischer Angriffspunkt wird, dann darf es um diese Kriegssituationen und das Wort „Krieg“ kein Drumherumreden und Beschönigen geben.
- Trotz der Gewalteskalation gilt aber auch: Über 90 % aller Sicherheitsvorfälle geschehen im Süden und Osten des Landes. Die Sicherheitssituation fällt regional stark auseinander, zum Teil dominiert Gewaltkriminalität, zum Teil Krieg zwischen ausländischen Truppen und Aufständischen, zum Teil ist die Lage nach wie vor relativ ruhig. Daher ist es ebenfalls unzutreffend, Afghanistan pauschal als „ein Land im Krieg“ zu bezeichnen – sei es, um daraus abzuleiten, dass man diesen mit massivem Militäraufgebot „gewinnen“ könne oder müsse; sei es, um den Eindruck zu erwecken, der ISAF-Einsatz sei insgesamt gescheitert. Wenn jetzt allerdings von den Konfliktparteien nicht radikal umgesteuert wird, ist Letzteres vermutlich die Konsequenz.
- Der UN-mandatierte ISAF-Einsatz ist auf der politischen Ebene kein Auftrag zum „Kriegführen“, sondern soll Sicherheitsunterstützung für die afghanische Regierung gewährleisten. Hier macht es sich zu einfach, wer den völkerrechtswidrigen und gescheiterten „War on Terror“ mit der ISAF gleichsetzt. Diese Unterscheidung heißt nicht, dass wir die von der ISAF geführten Luftangriffe gutheißen.
- Die Militärfixiertheit in der politischen Diskussion blendet die wichtigen politischen, sozialen und ökonomischen Herausforderungen, vor denen der zivile Aufbau in Afghanistan steht, völlig aus. Wir Grünen wollen einen wirksamen Beitrag zum friedlichen und demokratischeren Miteinander der Menschen in Afghanistan leisten. Wir lassen es der Bundesregierung nicht durchgehen, dass sie diese Diskussion aus wahltaktischen Gründen verweigert.
Wir fordern daher von der künftigen Bundesregierung folgende Maßnahmen, die nach der Wahl unverzüglich angegangen werden müssen:
- Eine ehrliche Bilanz des deutschen Einsatzes in Afghanistan und eine ergebnisoffene Debatte über die tatsächliche Lage in Afghanistan,
- eine unabhängige strategische Überprüfung der deutschen Afghanistan-Pakistan-Politik und die Einsetzung einer ressortgemeinsamen Afghanistan-Pakistan-Einheit zur Planung, Leitung und Auswertung unter einem/einer Afghanistan-Pakistan-Beauftragten der Bundesregierung mit politischem Gewicht, die/der dieser Politik ein Gesicht gibt,
- eine Institutionalisierung des Austauschs und der Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Akteuren der Afghanistanhilfe und der Wissenschaft,
- eine Überprüfung und Evaluierung der „Zivil-Militärischen Zusammenarbeit“, insbesondere im Hinblick auf die Unabhängigkeit von Hilfsorganisationen.
- Respekt vor den Menschen, die Förderung von menschlicher Sicherheit und verlässlicher Staatlichkeit müssen Dreh- und Angelpunkt des internationalen Engagements sein. Damit unvereinbar sind die Antiterror-Operationen der „Operation Enduring Freedom“ und die „black operations“ der CIA, die außerhalb des Unterstützungsansatzes von ISAF stehen. In der internationalen „Unterstützergruppe Afghanistan Pakistan“, in NATO, ISAF und EU muss sich die Bundesregierung glaubwürdig für die Umsetzung des allseits proklamierten Strategiewandels am Boden einsetzen, der nicht auf militärische Eskalation setzt, sondern den Schutz der Zivilbevölkerung in den Mittelpunkt stellt.
- Mit der afghanischen Seite und anderen Partnern sind für alle wesentlichen Aufbaufelder überprüfbare Zwischenziele zu vereinbaren mit der Absicht, zügig und flächendeckend zu greifbaren Aufbauerfolgen zu kommen. Hierfür müssen die notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Verstärkt werden müssen insbesondere die Ausbildungs- und Beratungshilfen für die afghanische Armee, Polizei und Justiz.
- Die jetzt von der Bundesregierung in Zusammenarbeit mit Frankreich und Großbritannien noch in diesem Jahr angedachte große Afghanistan-Konferenz darf keine Wiederholung der Paris-Konferenz von 2008 werden. Analyse und Bilanz, Strategie und Verbindlichkeiten müssen vorab festgelegt und breit diskutiert werden.
- Korruption und Drogenökonomie sind Schattenseiten der afghanischen Gesellschaft. Auch wenn der Norden zurzeit nur 0,6 % zur landesweiten Opiumproduktion beiträgt, kann die Bundesrepublik hier nicht weiter die Verantwortung auf andere abschieben: Die Chancen des momentanen Mohnrückgangs müssen jetzt genutzt werden. Die Bundesrepublik muss systematisch und nachdrücklich zur Eindämmung der Drogenökonomie beitragen. Dazu gehört auch, die Drogennachfrage des Westens zu thematisieren.
- Wo vermehrt Anstrengungen zu Waffenstillständen, zu politischen Verhandlungslösungen und zur Einbindung von militanten Oppositionellen unternommen werden müssen, sind von Deutschland und den Partnerländern die entsprechenden Kapazitäten zu schaffen. Darauf muss die deutsche Regierung hinwirken.
- Wie in den USA und Kanada hat die Bundesregierung das Parlament und die Öffentlichkeit mindestens in einem Halbjahresturnus an Hand von Benchmarks und Fortschrittsindikatoren über die sicherheits- und entwicklungspolitische Aufbaulage zu unterrichten.
- Das ISAF-Bundestagsmandat soll zukünftig um die zentralen zivilen und polizeilichen Beiträge erweitert werden.
- Auf dieser Grundlage einer wirkungs- und erfolgsorientierten Politik hat die Bundesregierung in Abstimmung mit der afghanischen Seite und den Partnern eine militärische Abzugsperspektive für den Zeitraum von wenigen Jahren zu entwickeln und einzuleiten. Sie ist die verantwortliche Alternative zu einem Sofortabzug.
Die Gewaltspirale in Afghanistan muss durchbrochen und der Krieg beendet werden. Wir Grünen sind solidarisch mit den afghanischen Frauen und Männern, mit ihrem Kampf um Menschenrechte, Entwicklung und Sicherheit. Dabei sehen wir es als unsere politische Pflicht, vor allem der Politik der eigenen Regierung und des Westens auf die Finger zu schauen – ohne dabei zu den Angriffen von Taliban und anderen zu schweigen und diese damit ungewollt zu relativieren. Wir wollen weder zu den Zivilopfern der Luftangriffe schweigen, noch zum Terror der Taliban gegen Zivilpersonen, PolizistInnen und Schulen.
Wir Grüne können ohne Selbstüberschätzung beanspruchen, das deutsche und internationale Afghanistan-Engagement über die Jahre so konstruktiv-kritisch begleitet und so offen diskutiert zu haben, wie keine andere Partei: Das zeigen die vielfältigen Initiativen der Bundestagsfraktion, das zeigen mehrere Grüne Parteitage, so der Sonderparteitag in Göttingen. An diese Tradition möchten wir anknüpfen und Solidarität mit den Menschen in Afghanistan zeigen, die sich dort für den Frieden einsetzen.
Mit freundlichen Grüßen
Stephan Kühn