Wieso sind Sie und stimmen für eine Impfpflicht, obwohl die WHO und sich Wissenschaftler in einem offenen Brief gegen eine Impfpflicht aussprechen?
Werter Herr R.,
Sie haben auf meine Frage vom 29. August 2021 ausweichend geantwortet (Frage nach wissenschaftlichen Kriterien/Gründen). Nun haben Sie einer Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen zugestimmt, obwohl WHO (https://www.dw.com/en/who-vaccine-mandates-should-be-last-resort/a-600437) und Wissenschaftler in einem offenen Brief (https://tkp.at/2021/12/10/offener-brief-von-wissenschaftlern-gegen-impfpflicht/) sich gegen eine Impfpflicht aussprechen. Aufgrund welchen (rechtlichen und ethischen) Gründen haben sie sich gegen die Empfehlung der WHO und den Wissenschaftlern ausgesprochen und einer Impfpflicht zugestimmt?
Sie sind auch für eine allgemeine Impfpflicht (siehe Frage von Michael B. vom 25.08.2021). Welche Maßstäbe legen Sie für die Kriterien einer allgemeinen Gefahr für die Menschen durch Infektionskrankheiten an um eine allgemeine Impfpflicht zu rechtfertigen? Oder sind es vorwiegend ökonomische Gründe (Einsparungen im Gesundheits- und Pflegesystem)?
Grüße
Sehr geehrter Herr D.,
vielen Dank für Ihre Nachricht. Mir ist bekannt, dass es auch unter Wissenschaftlern unterschiedliche Auffassungen zu einer Impfpflicht gegen SARS-CoV-2 gibt. Zahlreiche Wissenschaftler, darunter auch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, haben sich jüngst für die stufenweise Einführung einer Impfpflicht ausgesprochen. Auch möchte ich klarstellen, dass sich die WHO nicht gegen eine Impfpflicht ausgesprochen hat. Vielmehr hat der WHO-Regionaldirektor für Europa deutlich gemacht, dass die Impfpflicht nur dann eingeführt werden sollte, wenn alle anderen Optionen zur Verbesserung der Impfaktivität ausgeschöpft sind. Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass die zahlreichen Maßnahmen zur Steigerung der Impfquote an ihre Grenzen gestoßen sind, weshalb viele Bundestagsabgeordnete und auch ich eine stufenweise Impfpflicht nunmehr für gerechtfertigt halten.
Wenn wir im Deutschen Bundestag über die allgemeine Impfpflicht beraten, dann muss und wird der Schutz der Gesundheit und des Lebens aller Bürger im Zentrum der Debatte stehen. Eben diesen Schutz erreichen wir nach heutigem Kenntnisstand nur dann, wenn ein noch größerer Teil der Bevölkerung geimpft ist und somit ein Gemeinschaftsschutz erreicht wird. Damit ist zum einen der Schutz der Bevölkerung vor SARS-CoV-2 gemeint. Zum anderen ist aber auch der Schutz jener Menschen gemeint, die anderweitig erkrankt sind, aber im Falle einer Überforderung des Gesundheitssystems auf eine medizinische Behandlung warten müssen. Eine solche Entwicklung ist bereits jetzt zu beobachten, etwa die Aussetzung bzw. Verschiebung von sog. planbaren medizinischen Behandlungen. Auch ist es in den vergangenen Monaten dazu gekommen, dass intensivmedizinische Kapazitäten der nächstgelegenen Klinik aufgrund von SARS-CoV-2-Patienten erschöpft waren und Notfälle an einem entfernter gelegenen Ort behandelt werden mussten. Mit einer allgemeinen Impfpflicht würde der Staat solchen Entwicklungen entgegenwirken und käme der ihm unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG erwachsenden Schutzpflicht umfassend nach. Die nunmehr ins dritte Jahr gehende Pandemie hat uns eines verdeutlicht: Der Schutz der Gesundheit der Gesamtbevölkerung steht immer auch in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Schutz des öffentlichen Gesundheitssystems vor einer Überlastung.
Eine allgemeine Impfpflicht eröffnet schließlich auch die Möglichkeit, der Bevölkerung ihre Freiheitsrechte zügig und vollumfassend zurückgeben zu können.
Freundliche Grüße
Stefan Rouenhoff