Portrait von Stefan Liebich
Stefan Liebich
DIE LINKE
Zum Profil
Frage stellen
Die Frage-Funktion ist deaktiviert, weil Stefan Liebich zur Zeit keine aktive Kandidatur hat.
Frage von Paul K. •

Frage an Stefan Liebich von Paul K. bezüglich Recht

Lieber Herr Liebich,

vor einigen Monaten bereits erfuhr ich, daß Pläne gibt, den Berlinern ausgeweitete Möglichkeiten für Volkabstimmungen / Bürgerbegehren auf Bezirklicher (und landesweiter?) Ebene zur Verfügung zu stellen.
Einige Zeit später las ich von Bestrebungen, diese Möglichkeiten doch einzuschränken (z.B. für Bebauungspläne nicht zuzulassen).
Inzwischen höre ich garnichts mehr von diesen Plänen, geschweige denn von ihrer gesetzlichen Realisierung.
Meine Fragen an Sie:
a)Sehen Sie wie ich das Problem der Tendenz der verschiedenen politischen Parteigruppierungen, die nach jeweiligem Parteiverständnis als (ideologisch essentiell) wichtig angesehenen Entscheidungen lieber ohne - die Gestaltungsmacht natürlich störende - Beteiligung der Bevölkerung zu treffen?
b) Sind Sie persönlich bereit, einen Teil ihres Gestaltungs- und Entscheidungsspielraums (bzw. den Spielraum der Linken Partei) an Berliner Bürgerinnen und Bürger abzutreten, ja sogar dafür zu kämpfen?
c) Wieweit sind die Pläne des Berliner Parlaments zum Thema Bürgerbefragungen / Volksabstimmungen gediehen? Kommt da noch was, oder hat das Parlament Angst vor der eigenen Courage bekommen?

Ehrlichen Dank für eine ehrliche Antwort,
Ihr Paul Koch

Portrait von Stefan Liebich
Antwort von
DIE LINKE

Lieber Herr Koch,

Bereits seit 1990 setzt sich die PDS-Fraktion für mehr direkte Demokratie ein. Das heißt, die Berlinerinnen und Berliner sollen sich stärker einmischen und mehr mitbestimmen können, zum Beispiel durch Bürgerentscheide und Bürgerbegehren. Schon 1992 hatte die PDS ein eigenes Bezirksverwaltungsgesetz in das Abgeordnetenhaus eingebracht, dass eine Erweiterung der Mitwirkungs- und Entscheidungsrechte der Bürgerinnen und Bürger vorsah. Leider gab es damals keine parlamentarische Mehrheit für ein solches Projekt.

Erst in dieser Wahlperiode hat sich eine 2/3 Mehrheit des Parlaments dafür ausgesprochen. Am 16. Juni 2005 hat das Berliner Abgeordnetenhaus beschlossen, dass in den Bezirken ab sofort Bürgerbegehren und Bürgerentscheide möglich sind. Die Fraktionen von SPD, PDS, Bündnis90/ Die Grünen und FDP hatten entsprechende Gesetze erarbeitet, in und durch das Parlament gebracht. Der erste Entwurf dafür stammte von der PDS-Fraktion. Die CDU hat sich einem solchen Projekt verweigert. Seit dem 16. Juli 2005 sind die Gesetze in Kraft.

Jetzt können Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich in allen Fragen, in denen die BVV Beschlüsse fassen kann, selbst entscheiden. Auf einen Katalog, der bestimmte Themen ausschließt, wurde ebenso verzichtet wie auf die in vielen anderen Bundesländern übliche Regelung, dass Bürgerentscheide nicht zulässig sind, wenn sie Auswirkungen auf den Haushalt haben. Bürgerinnen und Bürger in Berlin müssen auch keinen finanziellen Deckungsvorschlag machen, wenn ihr Anliegen Geld kosten sollte, was woanders gang und gäbe ist. Bei der Verabschiedung des Bezirkshaushaltes, der Vergabe von Sondermitteln sowie der Satzung zu Bebauungsplänen sind aus bundes- und landesrechtlichen Gründen allerdings nur Bürgerentscheide mit empfehlendem Charakter möglich.

Ein Bürgerentscheid ist eine verbindliche demokratische Entscheidung von Bürgerinnen und Bürger in einer Angelegenheit, über die ansonsten das Bezirksparlament, die Bezirksverordnetenversammlung (BVV), Beschlüsse fasst. Er ist zustande gekommen, wenn sich 15 Prozent der Zahl derer, die zur letzten BVV-Wahl wahlberechtigt waren, beteiligt haben und wenn sich davon die Mehrheit für das Anliegen des Bürgerentscheides ausspricht.

Ein Bürgerbegehren ist ein Antrag von Bürgerinnen und Bürger auf Durchführung eines Bürgerentscheides. Es ist erfolgreich, wenn sich drei Prozent der Zahl derer, die zur letzten BVV-Wahl wahlberechtigt waren, beteiligt haben. Dann tritt eine Sperrwirkung ein: Bis zu einem Bürgerentscheid dürfen BVV und Bezirksamt keine Beschlüsse fassen, die dem Anliegen der Bürger entgegen stehen. .

Mit der Annahme der Gesetze "Mehr Demokratie für Berlinerinnen und Berliner" werden den Bürgerinnen und Bürgern auch weitere neue Möglichkeiten der Mitwirkung an bezirklichen Entscheidungen eröffnet. So erhält die Einwohnerfragestunde einen höheren Stellenwert. Sollte sich ein Bezirk für die Einwohnerfragestunde entscheiden, so muss diese ab sofort im Rahmen einer Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung stattfinden. Das Bezirksamt muss teilnehmen und ist verpflichtet, zu Fragen, Vorschlägen und Anregungen der Einwohnerinnen und Einwohner Stellung zu nehmen. Einwohnerinnen und Einwohner heißt auch, dass sich Kinder und Jugendliche sowie Migrantinnen und Migranten ebenfalls zu Wort melden können.

Ab sofort ist das Bezirksamt verpflichtet, die Einwohnerinnen und Einwohner des Bezirkes über wichtige Bezirksangelegenheiten - Prioritäten bei der Haushaltsplanaufstellung, die Planung und Gestaltung des unmittelbaren Wohnumfeldes oder die Investitionsplanung, um nur einige zu nennen - rechtzeitig zu informieren (§ 41 Unterrichtung der Einwohnerschaft). Rechtzeitig heißt, das die Verwaltung am Beginn eines Entscheidungsprozesses informieren muss und dass zum Zeitpunkt der Information der Bevölkerung Planungen nicht soweit fortgeschritten sein darf, dass es für Diskussionen keinen Spielraum mehr gibt. Dies wurde bewusst so in das Gesetz aufgenommen, weil wir verhindern wollen, dass es nur eine Alibibeteiligung - wie es leider oft der Fall ist - wird.

Zur Erörterung dieser wichtigen Angelegenheiten können Einwohnerversammlungen durchgeführt werden. Einberufen werden diese vom Bezirksamt, auf Beschluss der BVV oder auf Antrag eines Einwohners des Bezirks, wenn dieser von einem Drittel der BVV-Mitglieder unterstützt wird.

Eine weitere Möglichkeit, sich in Bezirkspolitik einzumischen, hat die Bevölkerung mit dem Einwohnerantrag, mit dem sie die BVV zwingen kann, sich mit einer für Sie wichtigen Angelegenheit zu befassen. Er muss bei der Bezirksverordnetenvorsteherin oder dem -vorsteher schriftlich eingereicht und von mindestens einem Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner (nicht bloß der Staatsbürgerinnen und -bürger) des Bezirkes, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, unterschrieben sein. Die BVV muss über einen zulässigen Einwohnerantrag unverzüglich entscheiden, spätestens jedoch innerhalb von zwei Monaten.

Lieber Herr Koch, wie Sie sehen, werden Ihnen hier neue Möglichkeiten der Mitwirkung und Mitentscheidung eröffnet. Auch wenn die Quoren für Bürgerentscheide nach Auffassung der PDS noch zu hoch sind - die PDS hatte 5 % vorgeschlagen - und weitere Vorschläge - wie die Einberufung von Einwohnerversammlungen auf Antrag Bevölkerung (Einwohnerversammlungen "von unten" initiiert), so ist dies doch ein Schritt in die richtige Richtung, den Bürgerinnen und Bürger mehr Gestaltungs- und Entscheidungsspielräume zu schaffen. Nur so werden auch die Parlamente und Parteien wieder an Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern gewinnen, wird die Politikverdrossenheit zurückgedrängt werden. Für die PDS ist Bürgerbeteiligung ein politisch und ideologisch in die Zukunft gesehen offener Prozess, der Veränderungsoptionen einschließt. Die PDS verfolgt damit einen emanzipatorischen Ansatz: Emanzipation von den vorgefundenen Machtstrukturen, Emanzipation von eigener Beschränktheit als einen Schritt zur Selbstveränderung, kulturelle Emanzipation als Emanzipation vom Primat der Konkurrenz in den gesellschaftlichen Beziehungen, also Wiedergewinnung von Solidarität.

Die PDS wird diesen Weg konsequent weiter gehen. Die Umsetzung von Bürgerhaushalten in den Bezirken, die Herabsenkung des Wahlalter zu den BVV-Wahlen auf 16 Jahre - eine Entscheidung hierzu wird noch im September im Abgeordnetenhaus fallen - und grundsätzliche Veränderungen für Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid auf der Landesebene noch in dieser Wahlperiode sind konkrete Vorhaben, an deren Umsetzung zur zeit gearbeitet wird.

Ich würde mich freuen, wenn Sie, lieber Herr Koch, sich aktiv in Politik einmischen und die Ihnen eröffneten Möglichkeiten nutzen und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie auch andere dafür motivieren können.

Mit freundlichen Grüßen

Stefan Liebich