Frage an Sirko Schulz von Andrea L. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Hallo Herr Schulz,
Berlin-Lichtenberg verfolgt das Projekt ´Bürgerkommune´ und will im Jahr 2007 sogar einen Bürgerhaushalt einführen, um den Umbau der Berliner Verwaltung hin zu einer bürgernahen Dienstleistungsverwaltung zu unterstützen. Welche Erfahrungen haben Sie persönlich mit diesem pilotähnlichen Projekt gemacht bzw. worin liegen Ihrer Ansicht nach dessen Chancen bzw. auch Risiken? Beschneidet sich die Politik nicht in ihrer Handlungsfähigkeit, indem sie sich verpflichtet den Vorschlägen der Bürger, die u.U. eher Partikular- als Kollektivinteressen vertreten, nachzukommen? Hat das Modell Ihrer Meinung nach Zukunft?
Mit bestem Gruß
Andrea Lehmann
Sehr geehrte Frau Lehmann,
die Lichtenberger FDP hat das Projekt Bürgerhaushalt von Beginn an massiv unterstützt und wohlwollend begleitet. Gleichwohl sind wir zu einer kritischen Reflexion in der Lage.
In der Kommunikation des Projekts wurden systematisch Fehler gemacht: Der erste Fehler liegt in der Kommunikation. Es wurde nicht ausreichend deutlich gemacht, dass es sich vorerst nur um Empfehlungen der Bürger handelt, die keinerlei formale Verbindlichkeit für die Mitglieder des Bezirksamtes und -parlamentes haben. Auch der geringe Anteil der beeinflussbaren Handlungsbereiche desillusionierte viele Bürger. Es wurde von Lobbygruppen während des Prozesses - individuell rational und auch legitim - massiv Einfluss genommen, indem Abstimmungen promotet und beworben wurden. Ich halte das in der kurzfristigen Wirkung für schlecht, weil Abstimmungen verzerrt werden. Langfristig kann es sinnvoll sein, wenn es zu einer Aktivierung weiter Teile der Bürger in Lichtenberg beiträgt. Das sind jedoch Anfangsprobleme, die sich aus meiner Sicht abstellen lassen, wenn das Projekt seinen Kinderschuhen entwächst.
Die Chance ist, dass politische Entscheidungen eine höhere Akzeptanz haben, wenn sie im Dialog mit den Bürgern getroffen werden und diese die Enge des Handlungsspielraums kennen lernen. Damit werden sie in die aktive Gestaltung ihres unmittelbaren Umfelds einbezogen.
Die Politik beschneidet sich mit dem Projekt zweifellos eigener Gestaltungsspielräume, was manchmal vielleicht gar nicht so schlecht ist. Den Bürgern ist aus meiner Sicht gegenwärtiger, dass hier ihr eigenes Geld ausgegeben wird, wohingegen Politiker eher die Steuern erhöhen, wenn ihre Lieblichgsprojekte nicht finanzierbar sind. Auch wenn es sich formal vorerst nur um Empfehlungen ohne formale Verbindlichkeit handelt, entfalten sie doch faktische Verbindlichkeit, weil sich die Politiker rechtfertigen müssen, wenn sie die Vorschläge ablehnen. Zukunft hat das Modell aus meiner Sicht unbedingt. Ich bin nur unschlüssig, in welcher Form es weiter betrieben werden sollte. Ich halte die bezirkliche Ebene für zu hoch gegriffen. Das unmittelbare Umfeld sind Ortsteile. Dort sind Veränderungen unmittelbarer und man erkennt die Wirkung des eigenen Einsatzes. Darüber hinaus sind strukturelle Veränderungen notwendig, um das System weniger lobbyistenanfällig zu gestalten. Eine umfassende Aufarbeitung im politischen Raum steht jedoch noch aus und wird zweifellos weitere Schwächen aufdecken.
Mit besten Grüßen
Sirko Schulz