Frage an Silke Stokar von Neuforn von Lothar W. bezüglich Arbeit und Beschäftigung
Die wirtschaftliche Produktivität hat auf Grund umfassender technologischer
Erfolge in den letzten Jahrzehnten weltweit enorm zugenommen. Seitdem wird
in immer größerem Umfang menschliche Arbeitskraft durch den Einsatz von
Maschinen und neue Produktionstechniken ersetzt. Mit anderen Worten: Immer
weniger Menschen erwirtschaften immer mehr Güter, Waren, Dienstleistungen.
Und immer weniger Menschen können sich die inzwischen im Überfluss
hergestellten Waren und Güter leisten.
Der Ausweg aus dem Dilemma sieht der Mainstream in Politik, Wirtschaft,
Wissenschaft ˆ national wie international - in der Steigerung der
Produktivität bei Senkung der Arbeitskosten, Rationalisierungen und einem
drastischen Abbau der sozialen Sicherungssysteme. Angeblich soll dieses
Patentrezept, den Anstieg der Arbeitslosigkeit zu stoppen und neue
Arbeitsplätze zu schaffen.
Im Ergebnis wird jedoch lediglich die Produktivität steigen: es werden noch
weniger Menschen noch mehr Waren, Güter, Dienstleistungen für ein geringeres
Einkommen erwirtschaften und noch weniger Menschen werden sich noch weniger
leisten können.
Dazu folgende Fragen an Sie:
1) Halten Sie Vollbeschäftigung zu menschenwürdigen Bedingungen in
Deutschland in den nächsten 20 Jahren für erreichbar?
2) Wenn nein, wie wollen Sie verhindern, dass die beschriebene Entwicklung
zu einer dauerhaften Benachteiligung und Verarmung weiter Bevölkerungskreise
geht?
3) Wie beurteilen Sie die Chancen und Möglichkeiten, die ein bedingungsloses
Grundeinkommen (siehe z.B. www.grundeinkommen.de) in diesem Zusammenhang
bietet?
Mit freundlichen Grüßen
Lothar Walczak
Sehr geehrter Herr Walczak,
vielnd Dank für Ihre Frage, die ich gerne beantworte. Der Arbeitsmarkt in Deutschland befindet sich aufgrund der Globalisierung und der Erweiterung der EU in einem umfassenden Strukturwandel. Globalisierung und EU-Erweiterung sind Realitäten, Deutschland kann sich als eine der großen Wirtschaftsnationen nicht von diesen Entwicklungen abschotten.
Mein Ansatz ist die faire Gestaltung der Globalisierung. Ich gehe nicht davon aus, dass es zukünftig ein zurück zur Vollbeschäftigung mit der Erwerbsbiografie geben wird: ich mache eine Ausbildung, gehe in ein Unternehmen in meiner Heimatregion und arbeite dort die nächsten 45 Jahre bis zum Eintritt ins Rentenalter. Es wird für jeden Einzelnen und jede Einzelne Zeiten der Vollerwerbstätigkeit, der Teilzeitarbeit, der Selbständigkeit, der Qualifizierung und der Familienarbeit geben. Gearbeitet wird in der Heimatregion, in einem anderen Teil Deutschlands und im Ausland.
Damit die strukturellen Veränderungen am Arbeitsmarkt nicht zu Ausgrenzung und Armut führen ist ein Bündel von Maßnahmen erforderlich. Die derzeit Langzeitarbeitslosen in Deutschland setzen sich zu über 70 % aus Personen zusammen, die keinen qualifizierten Schulabschluss und keine Berufsausbildung haben; aus alleinerziehenden Müttern, die keinen Ganztagskinderbetreuungsplatz finden; aus Personen, die älter als 50 Jahre alt sind und aus Menschen, die in Regionen mit einer sehr hohen strukturellen Arbeitslosigkeit leben, weil hier Industriestrukturen oder wie in den neuen Bundesländern ganze Wirtschaftsstrukturen zusammengebrochen sind.
Der Schlüssel für Arbeit ist eine qualifizierte Bildung und Ausbildung, wir brauchen mehr Investitionen und Qualität in Bildung und Forschung, damit soziale Herkunft nicht länger über Bildungschancen entscheidet. Wir brauchen Ganztagsschulen und Ganztagskinderbetreuung, damit Kinder nicht länger in Armut aufwachsen und die Frauenerwerbsquote in Deutschland steigt. Wir brauchen mehr Anreize und Förderung von Existenzgründungen insbesondere im Bereich von erneuerbaren Energien oder der Entwicklung von Antriebstechniken, die uns aus der Abhängigkeit vom Öl befreien.
Im Gesundheitswesen in der hausnahen und unternehmensnahen
Dienstleistung ist viel Potential für neue Arbeit. Ich will gezielt die
Lohnzusatzkosten im Niedriglohnbereich senken, damit hier finanzierbare
Arbeit entsteht, die gleichzeitig armutsfest ist. Ein bedingungsloses Grundeinkommen müßte erwirtschaftet und über Steuermittel verteilt werden. Ich halte dies nicht für gerecht. Warum sollen diejenigen, die arbeiten das nichtarbeiten der anderen finanzieren? Die Bedingung für Grundsicherung ist Bedürftigkeit und die Unfähigkeit, das Leben eigenverantwortlich zu finanzieren. Ich bin für eine armutsfeste Grundsicherung, die höher liegt als das jetzige ALG II. Die Aufnahme von zumutbarer Arbeit muss weiterhin Vorrang haben. Ich bin auch für eine Erweiterung der Zuverdienstmöglichkeiten. Ich bin für branchen- und regionsbezogene Mindestlöhne damit Arbeit armutsfest ist. Es gilt für mich aber der Grundsatz: Arbeiten muss zu mehr Einkommen führen als nicht arbeiten und die Eigenverantwortung des Einzelnen steht vor der kollektiven Sicherung des Lebensunterhaltes.
mit freundlichen Grüßen
Silke Stokar