Frage an Siemtje Möller von Manfred K. bezüglich Gesundheit
zweiter Versuch, mit Quellenangabe:
Moin Frau Möller,
werden Sie für die erneute Novellierung des Infektionschutzgesetztes mit den darin enthaltenen weiteren Grundrechtseinschränkungen stimmen? Sind Ihnen die statistischen Daten von Prof. John Ioannidis (Stanford University, USA) zur prozentual sehr geringen Letalität von Covid-19 bekannt? (Quelle WHO: Publication: Bulletin of the World Health Organization; Type: Research Article ID: BLT.20.265892 Page 1 of 37 John P A Ioannidis Infection fatality rate of COVID-19 This online first version has been peer-reviewed, accepted and edited, but not formatted and finalized with corrections from authors and proofreadersInfection fatality rate of COVID-19 inferred from seroprevalence data John P A Ioannidisa [...] In people < 70 years, infection fatality rates ranged from 0.00% to 0.31% with crude and corrected medians of 0.05%. [...] https://www.who.int/bulletin/online_first/BLT.20.265892.pdf
Wie bewerten Sie die Heranziehung von Inzidenzwerten, um einen Lockdwon zu verhängen? Halten Sie einen Lockdown aufgrund der nachweislich geringen Letalitätszahlen für verhältnismäßig und gerechtfertigt? Wie bewerten Sie die Tatsache, dass die Anzahl der mit oder an Covid-19 Verstorbenen nicht wie üblich saisonal von Herbst bis Frühjahr, sondern seit dem Auftreten im März 2020, also über einen wesentlich längeren Zeitraum von mehr als 12 Monaten gezählt wird, was zu wesentlich höheren Todeszahlen führt?
Freundliche Grüße
Sehr geehrter Herr Knake,
vielen Dank für Ihre Frage zum Infektionsschutzgesetz. Für die SPD-Bundestagsfraktion ist klar: Bei besonders hohen Infektionszahlen bedarf es zum jetzigen Zeitpunkt der Pandemie klarerer und bundeseinheitlicher Regelungen, die für alle einfach nachvollziehbar sind und einen schnellen Dämpfungseffekt auf das Infektionsgeschehen haben. Überall dort, wo es hohe Fallzahlen gibt, müssen diese Regeln gelten.
In Anbetracht der steigenden Infektionszahlen trifft den Staat eine Schutzpflicht, zu handeln. Eine Überlastung des Gesundheitssystems muss verhindert werden, damit eine medizinische Versorgung der Bürgerinnen und Bürger weiterhin gewährleistet werden kann. Der Bundesgesetzgeber kann durch sein Eingreifen verhindern, dass viele Tausende Menschen an COVID-19 erkranken und an den Folgen sterben oder lange Zeit leiden. Alle wissen: Der Weg raus aus der Pandemie führt über die Impfungen. Wenn dazu in den nächsten Monaten Millionen von Menschen in den Impfzentren und bei Haus- und Betriebsärzten geimpft werden, wird dies zu einem massiven Rückgang der Neuinfektionen führen. Zum jetzigen Zeitpunkt reichen die Impfungen jedoch noch nicht aus, um das Pandemiegeschehen wirksam zu kontrollieren. Dies ist aber notwendig, um die vielen Ungeimpften vor einer Ansteckung zu schützen, aber auch um das Risiko für Virus-Mutationen zu verhindern, die den Erfolg der Impfkampagne gefährden könnten. Die Impfkampagne muss darum durch weitere Schutzmaßnahmen ergänzt werden, die nun – befristet bis zum 30. Juni 2021 – für besonders hohes Infektionsgeschehen vom Parlament gebilligt wurden.
Das vierte Bevölkerungsschutzgesetz sieht in § 28b Abs. 6 Nr. 1 vor, dass die Bundesregierung bei Überschreitung der 100er-Schwelle bei der Inzidenz auch „zusätzliche Gebote und Verbote nach § 28 Abs. 1 S. 1 und 2 und § 28a Abs. 1 IfSG“ erlassen kann. Dies soll der Bundesregierung ermöglichen, ergänzende Maßnahmen zu ergreifen, sollte dies in der Pandemiebekämpfung notwendig werden. Das Parlament gibt der Bundesregierung jedoch keinen Blankocheck. Auf Druck der SPD wurde in den Verhandlungen erreicht, dass diese Bundesverordnungen nur mit Zustimmung des Bundestages und Bundesrates erlassen werden können. Das Parlament hat also bei weiteren Verschärfungen immer das letzte Wort.
Wir sind derzeit mitten in der dritten Welle. Seit Mitte Februar 2021 verzeichnen wir bundesweit deutlich steigende Infektionszahlen. Seit Mitte März hat sich der Anstieg der Fallzahlen beschleunigt. Die Virusvariante B.1.1.7, die mittlerweile in Deutschland dominiert, ist deutlich infektiöser und verursacht schwerwiegendere Krankheitsverläufe und langfristige Folgen. Die bisher unterschiedlichen Maßnahmen in den einzelnen Bundesländern konnten den rasanten Anstieg der Infektionszahlen nicht verhindern. Wir müssen darum als Bundesgesetzgeber entschlossen handeln. Das tun wir mit der bundeseinheitlichen Notbremse.
Zur Notbremse gehört, dass bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 Neuinfektionen und darüber das öffentliche Leben weitestgehend heruntergefahren wird: Private Zusammenkünfte werden begrenzt, Geschäfte und Einrichtungen müssen schließen und überall dort, wo Kontakte unvermeidbar sind, gelten strenge Hygienevorschriften. Eine nächtliche Ausgangsbeschränkung soll die Kontakte im privaten Bereich reduzieren. Eine Homeofficepflicht und eine Testangebotspflicht für Arbeitgeber sollen das Infektionsrisiko am Arbeitsplatz minimieren. Schulen sollen so lang wie möglich offengehalten werden, um die Bildung aber auch die psychische Entwicklung der Kinder nicht zu gefährden. Aber auch hier müssen ab einer kritischen Inzidenz wirksame Maßnahmen ergriffen werden.
Die Sieben-Tage-Inzidenz ist seit dem Dritten Bevölkerungsschutzgesetz vom 18. November 2020 Maßstab für die zu ergreifenden Schutzmaßnahmen. Auch wenn es eine breite Kritik gibt, den Inzidenzwert als alleinigen Umstand für die Auslösung von Infektionsschutzmaßnahmen anzusehen: Der Inzidenzwert ist klar, für jeden verständlich, gut nachvollziehbar und zudem rechtssicher. Für eine vorausschauende Politik zur Pandemiebekämpfung und zur Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems ist der Inzidenzwert in einem Gesetzesautomatismus am besten geeignet. Steigende Inzidenzwerte haben bislang immer zu einer steigenden Anzahl an COVID-19-Patientinnen und -Patienten auf den Intensivstationen geführt. Auch die Rechtsprechung hat bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der ergriffenen Schutzmaßnahmen regelmäßig auch auf den Inzidenzwert Bezug genommen. Es ist dabei stets bestätigt wurden, dass der Gesetzgeber in der Pandemie einen erheblichen Einschätzungsspielraum hat.
Es ist richtig, dass gerade die SPD sich im Frühjahr für eine Änderung im Infektionsschutzgesetz stark gemacht hat, mit der weitere Faktoren bei der Bewertung der Gefahrenlage berücksichtigt werden müssen. Nach § 28a Abs. 3 S. 12 IfSG sind bei der Prüfung der Aufhebung oder Einschränkung der Schutzmaßnahmen insbesondere auch die Anzahl der gegen COVID-19 geimpften Personen und die zeitabhängige Reproduktionszahl zu berücksichtigen sowie (laut Ausschussbegründung) auch die Belastung des Gesundheitssystems. Diese differenziertere Betrachtung ist bei niedrigeren Infektionszahlen sinnvoll, da hier ein kurzfristiger Anstieg des Inzidenzwerts auch auf ein lokal begrenzbares Infektionsgeschehen zurückgeführt werden könnte, dem durch effektive Schutzmaßnahmen vor Ort begegnet werden könnte.
Liegt die Inzidenz aber an drei aufeinanderfolgenden Tagen in einem Landkreis über 100, ist dies nicht mehr angezeigt. Dann sind die Fallzahlen so hoch, dass selbst bei einem Ausbruch in einem fleischverarbeitenden Betrieb Schutzmaßnahmen für den gesamten Landkreis notwendig sind. Die Menschen arbeiten ja nicht nur tagsüber, sondern leben bei ihren Familien, haben ggf. schulpflichte Kinder und private Kontakte.
Ziel der Maßnahmen ist die Bekämpfung einer epidemischen Notlage von nationaler Tragweite. Angesichts des besonderen Infektionsgeschehens droht eine Überlastung des Gesundheitssystems sowie eine hohe Zahl von Toten und Schwerkranken. Das überragend wichtige Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) gilt es besonders zu schützen.
Die Maßnahmen der Notbremse sind verhältnismäßig. Je größer die zu bewältigende Gefahrenlage, desto einschneidender können die Maßnahmen sein. Die Notbremse greift erst bei besonderem Infektionsgeschehen mit einer Inzidenzzahl von 100 als maßgeblichem Schwellenwert und damit deutlich oberhalb des in der Vergangenheit für ähnliche Maßnahmen zu Grunde gelegten Schwellenwertes. Zudem wird das Eingriffsgewicht der Maßnahmen durch eine Vielzahl von Faktoren wie dem „atmenden Mechanismus“ der Notbremse, einer Befristung und Ausnahmeregelungen auf den Regelungszweck zugeschnitten.
Wir sind uns bewusst, dass die Einschränkungen, die wir im Infektionsschutzgesetz vereinbart haben, nach den langen schwierigen Monaten in der Pandemie für alle Menschen in Deutschland eine weitere Belastung darstellen. Doch sie sind notwendig, um die Gesundheit von uns allen bestmöglich zu schützen und den Erfolg der Impfkampagne abzusichern.
Mit freundlichen Grüßen
Siemtje Möller