Frage an Sibylle Schmidt von Gabriele L. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sie bewerben sich in meinem Wahlkreis um ein Direktmandat für den Deutschen Bundestag. Da ich weder Sie persönlich kenne, noch Ihre ethische Grundhaltung einschätzen kann, erlauben Sie mir bitte eine Frage, bevor ich mich entscheide, ob ich Ihnen meine Stimme gebe oder nicht.
Wie stehen Sie persönlich - nicht Ihre Partei – zum Thema "selbstbestimmter Tod".
Damit meine ich ausdrücklich nicht nur "Sterbehilfe" im Fall schwerer, unheilbarer Krankheit, sondern den "Freitod" von Menschen, die niemandem etwas schuldig sind, also weder unmündige Kinder haben noch irgendwelche finanzielle Verbindlichkeiten.
Danke und freundliche Grüße
G. L.
Liebe Gabi,
als junge Frau bin ich auf meiner 850er Moto Guzzi mit einem LKW kollidiert. Habe Monate mit Freakadellen und Bulletten, die in Kämpfen um besetzte Häuser schwer verletzt wurden, im Urban Lazarett auf einer Stube gelegen. Morphium konnte die ersten Schmerzen kaum lindern, sie machten mir nur weniger aus. Leben und Gesundheit bekamen für mich einen hohen Stellenwert. Ein Freund rief mich während seiner Chemotherapien an, um die neusten Witze auszutauschen - die Ablenkung machte es erträglich. Die zweite Frau meines Vaters hat ein Leben voller Schicksalsschläge hinnehmen müssen und vor ihrem frühen Tod jahrelang an Krebs gelitten. Diskussionen über „Sterbehilfe“ machen Angst. Drogen, Prostitution, Sterbehilfe. Es entsteht der Eindruck, Gesetze werden von Sadisten gemacht, die Elend und Tod behilflich sind. Es gibt keinen vernünftigen Grund, auch nur eine Minute auf das Leben zu verzichten. Ich möchte unbedingt an lebenserhaltende Maschinen angeschlossen werden. Die besten Ärzte sollen mich wiederbeleben oder meine Festplatte aufladen. Medizin und Technik machen jeden Tag Fortschritte. Vielleicht gibt es eine bahnbrechende Erfindung, während man im Koma liegt. Ich möchte mindestens 100 Jahre alt werden und vor Erschöpfung beim Tanzen in der Panorama Bar kollabieren - wie die alte Dame im Film "Studio 54". I won’t die in silence.
Ein Körper voller Metastasen ist schwer vorstellbar. Palliativmedizin und Hospize leisten gute Arbeit, damit Patienten nicht leiden. Wenn ein Mensch sagt oder denkt: “Ich möchte nicht mehr leben“, dann will er/sie uns sagen, dass er/sie SO nicht mehr weiterleben möchte. Der Mensch möchte Schmerzen, schlimmer werdende Krankheiten oder ein bestimmtes Problem nicht länger aushalten. Er/sie will aber leben. Er/sie hat nur die Vorstellung, sein/ihr Problem würde sich nicht bessern. Dies ist ein fataler Irrtum. Es gibt immer einen Weg. Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere. Eine schnelle Lösung bietet ein Umzug in einen anderen Stadtteil oder Wohnort. Es kommt Bewegung in das Problem. Es wird von außen betrachtet. Es findet sich ein anderer Arbeitsplatz. Ist man zur Zeit nicht in der Lage, dem eigenen Leben neue Impulse zu geben, verändert sich die Umgebung unwillkürlich. Kollegen ziehen weg, andere heiraten, so dass negative Gruppendynamik wie von selbst verschwindet. Dies nennt sich Aussitzen von Problemen. Abwarten, was passiert und sich nichts zu Herzen nehmen. Liebeskummer und Trauer lösen sich nach einem Jahr und einem Tag von alleine auf. Deswegen gibt es das Trauerjahr in schwarzer Kleidung. Die Umgebung erkennt die notwendige Rücksichtnahme. Das Verlustgefühl verschwindet nach exakt einem Jahr. Der Organismus baut schlechte Gefühle ab. Das Traurige gerät in Vergessenheit. Es verbleicht. Neue Impulse kommen hinzu. Ein Umzug, ein neuer Wirkungskreis beschleunigen positive Energien.
Menschen sind weitaus weniger selbstbestimmt als wir uns das vorstellen. Die Dramaturgie kennt wohl 36 unterschiedliche Konflikte. Gefühle bestehen aus chemischen Abläufen. Serotonin, Dopamin, Noradrenalin und Adrenalin haben körpereigene Werte, die bei Depressionen durch eine Blutuntersuchung kontrolliert werden sollten. Nikotin, Alkohol und Drogen verändern diese Werte, so dass ein erfahrener Facharzt kurzfristig die Situation durch Ergänzungen lindern kann. Er hat auch die Suchtgefahr solcher Präparate unter Kontrolle. Letztendlich gibt es vier Suizidphasen im Leben. Jugend, Midlifecrisis, Rentenalter, Greisenzeit. Diese Phasen gilt es zu überwinden. Sie lösen sich wieder auf. Menschen, die über Probleme reden möchten, finden Hilfe bei erfahrenen Gesprächstherapeuten. Ich würde hierzu einen älteren Kollegen in einem konservativen, erfolgreichen Stadtbezirk konsultieren und eine gewisse Skepsis bewahren. Er verdient auch sein Geld mit der Situation, kann einen schlechten Tag haben oder irren. Sorgen produzieren weitere Gesundheitsschäden, weil sie sprichwörtlich aus der Bahn werfen. Eine konsequente Lebensführung bringt auch seelische Linderung. Aufstehen, Frühstück, Arbeit, warmes Mittagessen, Arbeit, Fahrrad fahren für den Kreislauf, warmes Abendessen, Ordnung halten, Putzen, heiteres Buch lesen, schlafen. Schlimme Nachrichten eine Weile nicht mehr anschauen. Computer ausschalten. Familie besuchen. Auch wenn der Kontakt aufgrund von Zeitmangel jahrelang unterbrochen war. Jeder weise Verwandte freut sich über einen Besuch. Jede liebende und verwandtschaftlich verbundene Person freut sich über Nähe und Kontakt. Wir wollen unseren Altvorderen keinen Kummer bereiten. Das haben sie nach einem arbeitsreichen Leben nicht verdient. Wer andere glücklich macht, verliert eigene Sorgen. Wer sich Gedanken über andere macht, denkt nicht so viel über Eigenes nach. Im Rathaus Kreuzberg habe ich einen Briefkasten. An der Tür der Fraktion findet sich meine Telefonnummer. Ich möchte dich zum Tee einladen und dir ein Buch schenken. Bitte melde dich bei mir.
Liebe Grüße und schöne Woche
Sibylle