Frage an Sebastian Edathy von Tuvia D. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
In Ihre Antwort an Herr Hahn Sie haben dieses geschrieben:
"In der Bundesrepublik wurden keine "Ausländer-Wohngebiete" gebildet, die nun zum Unruheherd werden könnten. Und wenn Sie mir jetzt etwa einen Hinweis auf den Berliner Stadtteil Kreuzberg entgegenhalten sollten, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass wenige andere Berliner Stadtteile von (auch inländischen) Touristen so gerne und zahlreich besucht werden."
Aber die Favelas von Rio de Janeiro sind Attraktion für Touristen. Aber das nur nebenbei.
Zu meine Frage: In Welt-Online wiedergegeben ist Interview von Berliner Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, das ist Eberhard Schönberg.
( http://www.welt.de/berlin/article1533113/Teile_Berlins_sind_verloren.html )
Herr Schönberg sagt:
"Der Anteil von jugendlichen Migranten bei Gewalt- und Intensivtätern liegt bei 50 bis 80 Prozent. Die Gewaltbereitschaft und die Intensität der Brutalität nehmen zu."
Und weiter:
"Zumindest bestimmte Gebiete sind nicht mehr zu retten. Gemeint sind Teile von Wedding, von Tiergarten, von Schöneberg und Kreuzberg sowie Neukölln-Nord. Die Menschen, die noch Anspruch an ein normales Leben haben und über die nötigen finanziellen Mittel verfügen, ziehen in andere Bezirke, schon der Sicherheit ihrer Kinder zuliebe. Zurück bleibt eine Unterschicht, die keine Kontakte jenseits des Gettos hat. Denn leider muss bereits von Gettos gesprochen werden, in die sich einzelne Funkstreifenwagen nicht mehr hineinwagen, weil sie sich oft einem gewaltbereiten Mob gegenübersehen, der den Respekt vor der Polizei entweder verloren oder niemals gelernt hat."
1. Wieso gibt es einen großen Unterschied zwischen Ihren Ansichten und den Ansichten von Gewerkschaft der Polizei?
2. Warum sind Sie dagegen, kriminelle Ausländer auszuweisen? Viele anständige Ausländer, die viel arbeiten wollen nicht, dass Rechtsradikalismus wegen schlechter Erfahrungen mit kriminellen Ausländern in Deutschland ansteigt.
Ich bitte um eine ehrliche Antwort, Tuvia Deutszman
Sehr geehrte Frau Deutszman,
vielen Dank für Ihre Fragen vom 21. Januar 2008.
Das Interview mit Herrn Schönberg auf "Welt-Online" habe ich gelesen. Ich teile sein Fazit (in Berlin seien "bestimmte Gebiete ... nicht mehr zu retten") ausdrücklich nicht.
Lassen Sie mich einige Anmerkungen machen: Herr Schönberg spricht u.a. von sogenannten jugendlichen Intensivtätern. Diese werden von der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) nicht gesondert erfasst. Bei den Intensivtätern handelt es sich mit Blick auf die Gesamtzahl delinquenter Jugendlicher um eine kleine Gruppe. Allerdings soll diese Gruppe von Jugendlichen (6 bis 8 Prozent) für mehr als die Hälfte der insgesamt begangenen Straftaten verantwortlich sein. Ab wann ein Jugendlicher oder Heranwachsender als Intensivtäter anzusehen ist, ist nicht genau definiert. In einer Untersuchung über junge Mehrfachtäter in Mecklenburg-Vorpommern wurden alle 14- bis 21-jährigen erfasst, die im Zeitraum eines halben Jahres wegen einer Straftat polizeilich registriert wurden und im jeweils vorangegangenen Jahr bereits zweimal registriert worden waren. In Berlin hat die Staatsanwaltschaft eigene Abteilungen für die Kontrolle und die Strafverfolgung von Intensivtätern eingerichtet.
Ich bin allerdings, wie auch der 26. Deutsche Jugendgerichtstag, der Meinung, dass das Verwenden von plakativen und letztlich unscharfen Begriffen wie „Intensivtäter“ geeignet ist, den Blick auf Lebensumstände zu verstellen und die Aussichtslosigkeit nicht rein strafender Reaktionsformen zu suggerieren.
Es waren besonders einzelne spektakuläre Straftaten jugendlicher Mehrfachtäter, die die jetzige Debatte um die Jugendkriminalität angeheizt haben. So war einer der zwei Täter, die Ende 2007 einen Fahrgast in der Münchner U-Bahn verprügelt und schwer verletzt hatten, bereits mit 41 Straftaten registriert. Wie auch sein Mittäter hatte er einen Migrationshintergrund und war nicht deutscher Staatsbürger. Schätzungen gehen davon aus, dass rund die Hälfte aller sog. Intensivtäter nichtdeutscher Herkunft ist. Allerdings wird hierbei regelmäßig übersehen, dass nicht der Migrationshintergrund für die Kriminalität relevant ist, sondern der sozioökonomische Hintergrund. Gerade dieser ist aber bei den in der Statistik überproportional auftauchenden Personen häufig niedrig: bei jüngeren Männern, die in Großstädten leben und einen niedrigen Ausbildungsstand aufweisen.
In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass bestimmte Herkunftsmerkmale von Gewalttätern sich auffallend wiederholen: die nach dem Hamburger Erziehungswissenschaftler und Kriminologen Prof. Jens Weidner so genannte „gefährliche Trias“: gewalttätige Erziehung, die die Jungen, die meisten aus niedrigen sozialen Schichten, in gewalttätige Freundeskreise treibt, dazu Konsum von Mediengewalt.
Ich bin der Auffassung, dass in den Stadtteilen mit einem weit überproportionalen Migrantenanteil gezielt etwas für die Stadtteilentwicklung getan werden muss. Beispielsweise muss das Wohnungsangebot dort, wo Monostrukturen bestehen, neu gestaltet werden. Baugemeinschaften müssen gefördert, Mietwohnungen mit Eigentumswohnungen gemischt werden. Die städtischen Wohnungsgesellschaften müssen ihre Bestände durchmischen.
Auch wenn günstiger Wohnraum benötigt wird, ist die Konzentration von zu vielen öffentlich geförderten günstigen Geschosswohnungen in einem Quartier schlecht für die Sozialstruktur. Daher ergeben sich in den von Ihnen thematisierten Berliner Bezirken auch die bekannten Probleme. In Gegenden, in denen ein derart hoher Anteil an der Bevölkerung Leistungen aus der Öffentlichen Hand bezieht, ist nicht der Migrationshintergrund, sondern die sich ergebende Chancen- und Perspektivlosigkeit für Kriminalität verantwortlich.
Deshalb aber davon zu sprechen, dass diese Bezirke nicht mehr zu retten seien, halte ich für falsch und unverantwortlich. Und dass Sie, Frau Deutszman, den Berliner Stadtteil Kreuzberg mit südamerikanischen Großstadt-Slums vergleichen ("Favelas von Rio") ist leider ebenfalls unsachlich.
Hinsichtlich Ihrer Frage zu Ausweisungen von kriminellen Ausländern möchte ich auf meine jüngst erfolgte Antwort an Herrn Hirsch verweisen.
Ich sehe übrigens, anders als Sie, Frau Deutszman, keinen „ansteigenden Rechtsradikalismus durch schlechte Erfahrungen mit kriminellen Ausländern“. Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit gibt es im Zweifel auch ohne Ausländer - genau so, wie Antisemitismus auch ohne Juden funktioniert. Das ist das Wesen einer Ideologie. Allerdings umgekehrt Ausländer für Ausländerfeindlichkeit verantwortlich zu machen, ist zynisch. Zumal die übergroße Mehrzahl der in Deutschland lebenden Ausländerinnen und Ausländer rechtstreu ist.
Mit freundlichen Grüßen
Sebastian Edathy, MdB