Frage an Sebastian Edathy von Andreas K. bezüglich Recht
Sehr geehrter Herr Edathy,
mit Interesse verfolge ich derzeit die Diskussion um die Straffreiheit bezüglich religiöser Beschneidung. Meines bisherigen Wissens beabsichtigt der Bundestag die religiöse Beschneidung zu erlauben. Ich würde gerne wissen, welches Gut Sie diesbezüglich als höher werten: Das Recht des Kindes auf körperliche Unversertheit oder religiöse Freiheit?
Ich habe derzeit Probleme nachzuvollziehen, warum die religiöse Beschneidung straffrei bleiben soll. Mir geht es nicht darum, religiöse Freiheit einzuschränken. Im Gegensatz glaube ich an die Religionsfreiheit, wie sie im Grundgesetz verankert ist. Sie ist richtig und wichtig. Gleichzeitig hat jeder Mensch, ob Kind oder Erwachsener, das Recht auf körperliche Unversertheit. Was ist eigentlich, wenn ein Kind nach der Geburt beschnitten wird 20 Jahre später feststellt, dass es das nicht gewollt hat?
Mit Interesse konnte ich in der F.A.Z. einen offnen Brief namenhafter Wissenschaftler und Juristen lesen, in der sie fordern, den Kinderschutzgedanken stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Ist es nicht vielmehr sinnvoller, die Beschneidung dann als straffrei zu lassen, wenn auch das Kind mit der Beschneidung einverstanden ist? Zum Beispiel dann, wenn es im einwilligungsfähigem Alter ist? Dann würde die religiöse Freiheit und der Kinderschutzgedanke gleichermaßen beachtet.
Ich freue mich auf Ihre Antwort und verbleibe mit besten Grüßen,
Andreas Kegel
Berlin, 06.08.2012
Sehr geehrter Herr Kegel,
die Zulässigkeit religiös motivierter Beschneidungen minderjähriger Jungen ist seit jeher unklar. Die Entscheidung des Landgerichts Köln vom 07.05.2012 hat die Rechtsunsicherheit noch verstärkt. Das Gericht hat die nicht medizinisch indizierte - also einzig religiös motivierte - Beschneidung als rechtswidrige Körperverletzung qualifiziert. Der die Beschneidung durchführende Arzt wurde jedoch frei gesprochen, weil er, so das Gericht, davon ausging - und aufgrund der unklaren Rechtslage auch davon ausgehen durfte - die Beschneidung sei gestattet (unvermeidbarer Verbotsirrtum). Das Urteil hat zwar keine bindende Wirkung für andere Gerichte, jedoch wird sich zukünftig wohl niemand mehr auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum berufen können. Folge: Religiös motivierte Beschneidungen würden wohl zukünftig nicht mehr von Ärzten durchgeführt werden.
Strafrechtlich betrachtet stellt die Beschneidung - egal ob medizinisch oder religiös motiviert - eine Körperverletzung gemäß § 223 StGB dar. Erfolgt die Beschneidung eines Minderjährigen aus medizinischen Gründen (z.B. bei Verengung der Vorhaut - Phimose), ist sie über die Einwilligung der Eltern gerechtfertigt. Die Einwilligung ist wirksam, da sie bei medizinischer Indikation im Interesse des Kindes erfolgt.
Erfolgt der Eingriff aus rein religiösen Gründen, ist die Wirksamkeit der Einwilligung fraglich. Hier sind zwei grundrechtlich geschützte Rechtsgüter abzuwägen: das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und das Recht der Eltern auf Ausübung ihrer Religion. Das Landgericht Köln hat dem Recht auf körperliche Unversehrtheit im Ergebnis Vorrang gegeben.
Da das Gericht aber insgesamt zu einem Freispruch kam, ist eine Anfechtung des Urteils und daher ein Gang zu einer höheren Instanz, z.B. vor das Bundesverfassungsgericht, nicht möglich.
Die daraufhin entbrannte gesellschaftliche Diskussion ist vielschichtig und macht die Kompliziertheit dieses Themas deutlich. Menschen jüdischen und muslimischen Glaubens fürchten um die Möglichkeit, ihren Glauben in Deutschland leben zu können. Auch fürchtet man, dass Beschneidungen zukünftig vermehrt in "Hinterzimmern" stattfinden und von Menschen ohne medizinische Qualifikation ausgeübt werden könnten. Auch befürchtet man einen "Beschneidungstourismus".
Es muss klar sein, dass jüdisches und muslimisches Leben und deren Kultur fester Bestandteil der Gesellschaft in Deutschland sind. Das Grundgesetz garantiert das Recht auf freie Religionsausübung und macht keinen Unterschied zwischen den Glaubensgemeinschaften.
Allerdings muss sich die Ausübung der Religionsfreiheit im Rahmen der geltenden Gesetze bewegen. Die derzeitige politische Diskussion richtet den Fokus m.E. zu stark auf das Recht der freien Religionsausübung. Natürlich sollen unsere jüdischen und muslimischen Mitbürger die Beschneidung auch in Zukunft frei von Sanktionen ausüben können. Gleichzeitig sollte eine strafrechtliche Regelung jedoch auch den hohen Stellenwert zum Ausdruck bringen, den unser Grundgesetz dem Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit eingeräumt hat. Eine zukünftige Regelung muss den Schutz von Kindern als den schwächsten Mitgliedern unserer Gesellschaft garantieren. Wie dies innerhalb der Strafrechtssystematik gewährleistet werden kann, muss juristisch geprüft werden.
Auch muss sichergestellt sein, dass eine Beschneidung von minderjährigen Jungen unter medizinischen Bedingungen und ohne unnötige Schmerzen durchzuführen ist. Eine Grenze zur sittenwidrigen und nachhaltig schädlichen Verstümmelung der Genitalien von Mädchen muss unmissverständlich und kompromisslos gezogen werden.
Die Vorsitzenden der Fraktionen von SPD, CDU/CSU und FDP sind übereingekommen, die Frage der Beschneidung minderjähriger Jungen aus religiösen Gründen gesetzlich eindeutig zu regeln. Ein entsprechender fraktionsübergreifender Antrag, der die Bundesregierung zur Erarbeitung eines solchen Gesetzes auffordert, ist am 19. Juli 2012 vom Bundestag beschlossen worden.
Mir ist bewusst, dass die Eile, mit der dieser Antrag entstanden und auf die Tagesordnung gekommen ist, diskussionswürdig ist. Diese Eile ist aber dem Umstand geschuldet, dass vom Bundestag möglichst schnell ein deutliches Signal an die Menschen jüdischen und muslimischen Glaubens, aber auch an die, die der Beschneidung minderjähriger Jungen kritisch gegenüberstehen, ausgesendet werden sollte, wie man in diesem Bereich Rechtssicherheit schafft, religiöses Leben in Deutschland weiter ermöglicht und gleichzeitig dem Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes Rechnung trägt.
Dieses dann konkret umzusetzen wird Aufgabe eines noch zu erarbeitenden Gesetzentwurfes sein. Die Diskussion ist mit diesem Antrag nicht abgeschlossen. Wir sollten sie mit der gebotenen Sachlichkeit und Respekt vor den verschiedenen Argumenten führen.
Mit freundlichen Grüßen
Sebastian Edathy, MdB