Frage an Sabine Scherbaum von Ursula R. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Scherbaum,
in der Selbstdarstellung vieler Parteien nehme ich wahr, dass Frauenpolitik gleichgesetzt wird mit Politik für Familien, für Eltern; dass also Frauen mit Müttern gleichgesetzt werden; dass als Hauptinteresse von Frauen das Interesse an ihren Kindern bzw. an ihrer Mutterrolle unterstellt wird.
So wichtig die Interessenvertretung von Frauen, die Mütter sind, meiner Meinung nach auch ist: die Definition von Frauen über ihre Gebärfähigkeit scheint mir heute völlig unzeitgemäß. Bitte skizzieren Sie mir Ansätze Ihrer Partei, wie Sie die Interessen von Frauen völlig jenseits der Definition als (potenzielle) Mutter stärken möchten.
Vielen Dank und freundliche Grüße
Ursula Richter
Sehr geehrte Frau Richter,
Sie sprechen ein wichtiges Thema an: das verbreitete gesellschaftliche Verständnis von Frauen- bzw. Gleichstellungspolitik als Familienpolitik. Dies zeigt sich z.B. deutlich in der organisatorischen Eingliederung der "Frauen" in das Familienministerium (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend). Diese Subsumierung ist die direkte Folge eines gesellschaftlichen Leitbildes, das die heterosexuelle Kleinfamilie mit männlichem Ernährer zum Maß aller Dinge macht.
Wie unbrauchbar diese normierten Bilder sind, zeigt ein Blick auf die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten von Frauen: allein erziehend, berufstätig, lesbisch, in Wohn- und Lebensgemeinschaften, karrierezentriert usw. usf.. Lebensmodelle außerhalb der "klassischen Kleinfamilie" sind für viele Männer und für Frauen längst Normalität.
Die Forderungen feministischer Politik richten sich an einer Gleichbewertung und Gleichstellung ALLER Lebensweisen aus. Die immer noch herrschende Bevorzugung der heterosexuellen Ehe (mit oder ohne Kinder!) im Steuer und Sozialversicherungsrecht mit dem dazugehörigen Leitbild des so genannten "Ernährermodells" betrachten wir als historisch überholt. Die durch die Abschaffung des Ehegattensplittings einzusparenden 20Mrd. Euro jährlich sollten besser für ein angemessenes Kindergrundeinkommen verwendet werden.
In diesem Zusammenhang ist die Umsetzung folgender Punkte besonders bedeutend:
1. Frauen müssen das volle Selbstbestimmungsrecht über ihre Körper erhalten und sich ohne gesellschaftlichen Zwang für oder gegen ein Leben mit Kindern entscheiden können.
2. Die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männer in Höhe von durchschnittlich 23% ist ein gesellschaftlicher Skandal. Das Prinzip der Marginalisierung von weiblicher Arbeit betrifft nicht nur die typischen Frauenberufe, sondern in seinen monetären Auswirkungen vor allem berufstätige Frauen in den Führungsetagen. Gerade sie haben die höchsten Verlust beim Einkommen hinzunehmen verglichen mit ihren männlichen Kollegen. Ganz zu schweigen von den diskriminierenden Bewertungsverfahren in den Eingruppierungen von typischen Frauenarbeitsplätzen wie Erzieherinnen, Altenpflegerinnen, Grundschullehrerinnen, die für ihre gesellschaftlich nützliche und notwendige Tätigkeiten eklatant und beschämend unterbezahlt werden.
3. Basis einer Gesellschaft, die die Menschen und nicht die Kapitalverwertung in den Mittelpunkt ihrer Politik stellt, ist eine Wirtschaftsweise, die allen Gesellschaftsmitgliedern die gleiche Chance auf Teilnahme und Teilhabe ermöglicht. Daraus ergibt sich das Recht auf einen angemessen bezahlten Erwerbsarbeitsplatz. Dies ist übrigens auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert: §23. Unser vorherrschender Arbeitsmangel ist künstlich herbeigeführt und gewollt. In Wirklichkeit gibt es keinen Arbeitsmangel: unsere Gesellschaft hat genügend lebensförderliche Aufgaben, die zu bewältigen wären - wenn sie denn angemessen entlohnt würden. Feministische Politik fordert die Schaffung von angemessen bezahlten Arbeitsplätzen in gesellschaftlich notwendigen und nützlichen Bereichen wie Pflege, Bildung, Kinderversorgung, Sozialarbeit, Ökologie, Erneuerbare Energien... Auf was wir im Gegenzug verzichten können: Atomenergie, Finanzspekulationen, Waffenproduktion, Rüstungsindustrie, und einiges mehr....
4. Damit komme ich zum letzten Punkt, der zudem am einfachsten umzusetzen ist: Frauen müssen auf allen politischen und ökonomischen Ebenen zur Hälfte beteiligt werden. Nicht nur der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter ist der Ansicht, dass wir mit einer höheren Beteiligung von Frauen in den Finanzmärkten heute nicht vor, bzw. in dieser katastrophalen Weltkrise stehen würden (siehe auch meine Antwort an Frau Prixa).
Sehr geehrte Frau Richter, Sie entnehmen meiner Antwort, dass feministische Forderungen Demokratie und Gerechtigkeit für Frauen unabhängig von ihrer Situation als Mutter oder Nichtmutter in den Mittelpunkt stellen. Gerade die freie Entscheidung für oder gegen Mutterschaft ist eine uralte Forderungen von Feministinnen!
Mit freundlichen Grüßen
Sabine Scherbaum