Frage an Roswitha Kirschniok von Felix B. bezüglich Wissenschaft, Forschung und Technologie
Sehr geehrte Frau Kirschniok,
wie ich gelesen habe, sind sie Lehrerin, also haben sie Praxiserfahrung. Wo sehen Sie die Schwachstellen des neuen Berliner Schulgesetzes?
Mit freundlichen Grüßen
F. Bürger
Sehr geehrter Herr Bürger,
vielen Dank für Ihre Anfrage, die mit Gelegenheit gibt, mich zu Bildungskonzepten für Berlin zu äußern.
Ihrer Frage entnehme ich, dass Sie sich - ebenso wie viele andere Interessierte - mit dem seit 2005 gültigen Berliner Schulgesetz auseinandergesetzt haben. Ihre Frage nach den Schwachstellen ist durchaus berechtigt. Mit dem Inkrafttreten des neuen Schulgesetzes wurde mit den Vorklassen und der Eingangsstufe Bewährtes aufgehoben. Die seitdem in Berlin praktizierte Form der so genannten flexiblen Schuleingangssphase überfordert viele Lehrkräfte (in einer Lerngruppe Kinder von 5,5 bis 9 Jahre, mit fehlender Schulreife, schulreif, mit sonderpädagogischem Förderbedarf, hochbegabt, ohne Deutsch-Kenntnisse, altersgemäß entwickelt usw.). Die mit dem Gesetz ebenso entfallene Berufsschulpflicht empfinde ich als verantwortungslos.
Schul- und Bildungspolitik muss sich in Berlin wieder auf Leistung, Qualität und Werte besinnen. Als Lehrerin fordere ich Vorfahrt für Schule im Berliner Landeshaushalt. Dazu gehört:
- eine Unterrichtsgarantie für unsere Schüler. Bei 600 000 Stunden Unterrichtsausfall im vergangenen Schuljahr kann nicht weiter hingenommen werden, dass jährlich hunderte in Berlin gut ausgebildete Referendare die Stadt in andere Bundesländer verlassen.
- die Verbesserung der Rahmenbedingungen für unsere Schulen. Neben einer ausreichenden Zuwendungen für Lehr- und Lernmittel, einer modernen PC-Ausstattung der Schulen und einer angemessenen finanziellen Untersetzung des Schul- und Sportstättensanierungsprogramms muss den Schulen ein Verwaltungsservice zu Seite gestellt werden, damit sich das pädagogische Personal den eigentlichen Aufgaben im Bildungs-, Unterrichts- und Erziehungsprozess widmen kann.
Ich trete dafür ein, die Benachteiligten unser Gesellschaft zu fördern und Begabte zu fordern. Die Einheitsschule lehne ich deshalb ab. Gleichmacherei wird uns nicht vorwärts bringen. Ich unterstütze ein vielfältig gegliedertes Schulsystem - mit großer Durchlässigkeit und ohne Sackgassen. Ich unterstütze den bedarfsgerechten Ausbau grundständiger Gymnasien (Übergang nach der 4. Klasse der Grundschule)deshalb, weil jegliches derzeit praktiziertes Auswahlverfahren Bildung zur Lotterie verkommen läßt. So etwas lehne ich ebenso ab wie die Auflösung der Hauptschulen. Diese müssen sowohl personell als auch in ihrer gesellschaftlichen Anerkennung gestärkt werden. Deren Schüler, vorwiegend mit Migrationshintergrund, kann man nicht einfach auflösen. Man würde die Probleme nur verlagern. Im Angebot von Berufsausbildungsmodulen bereits in den Klassen 9 und 10 sehe ich eine Möglichkeit zur Stärkung dieser Schulart.
Für eine so weltoffenen und multikulturelle Stadt wie Berlin fordere ich allerdings auch mehr Angebote für fremdsprachige und bilinguale Schulbildung mit muttersprachlichen Lehrkräften und Erziehern ab der Klasse 1 bis hin zum Abitur.
Im Interesse unserer Schüler und der Lehrerinnen und Lehrer fordere ich mehr Reformen - allerdings mit Augenmaß:
- ja, ich befürworte die Überprüfung der Bildungsstandarts in Vergleichsarbeiten und verbindlichen zentralen Prüfungen.
- ja, unterstütze die Einführung so genannter Kopfnoten für Lerneinstellung, Sozialverhalten und Zuverlässigkeit.
- ja, ich fordere "Null Toleranz" für Schulschwänzer.
- und ob Sie es glauben oder nicht: Ich will auch eine Stärkung des Schulleiters zur pädagogischen Führung der Schule.
Ich werde mich dafür engagieren, dass sich die Berliner Bildungspolitik wieder auf Leistung, Qualität und Werte besinnt. Dann werden wir es 2009 bei der PISA-Erhebung schaffen, uns aus dem hintern Drittel des deutschen Bundesdurchschnittes zu befreien.
Mit freundlichem Gruß
Roswita Kirschniok