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Roman-Hartmut Wauer
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Frank G. •

Frage an Roman-Hartmut Wauer von Frank G. bezüglich Soziale Sicherung

Kurz gesagt, geht es um die überbordende Konkurrenz von Sozialleistungen. In meinem täglichen Geschäft als Leistungssachbearbeiter im Jobcenter habe ich ständig damit zu tun, Kunden aufzufordern Anträge bei anderen Behörden zu stellen, da diese vorrangig sind.

Da wären:
Kindergeld
Unterhaltsvorschuss (Jobcenter haben eine eigene Unterhaltsstelle)
Kinderzuschlag
Wohngeld
Elterngeld
neu Bundesbetreuungsgeld
Berufsausbildungsförderung
BAföG
etc.

Manche dieser Leistungen reduzieren den Anspruch aus Arbeitslosengeld II. Die Kunden haben also keinen Vorteil davon, abgesehen von Freibeträgen (30 EUR), die z.T. für manche dieser Leistungen gewährt werden. Andere Leistungen bzw. nur deren theoretischer Anspruch führen zum völligen Leistungsstopp (z.B. BAföG). Wohl gemerkt, ob von der anderen Stelle Leistungen bezahlt werden oder nicht. (???) Bei Leistungen wie Kinderzuschlag und Wohngeld kann es bei Aufstockern mit einem schwankenden Erwerbseinkommen zu der Situation führen, dass der Leistungsträger beinahe monatlich wechselt. All dies hat für die Kunden, die sich doch eigentlich um ihre Qualifizierung und die Stellensuche kümmern sollen, keinerlei erkennbaren Vorteil und belastet sie zusätzlich. Ein Großteil der sowieso schon knappen Arbeitszeit (hierzu: Stellungnahme der Personalräte der Jobcenter) muss für die gegenseitige Information über evtl. Leistungsbewilligungen oder -entziehungen zwischen den Behörden verwendet werden. Hinzu kommen haufenweise wechselseitige Erstattungsansprüche, also ein hin und her von Geld, das so oder so dem Staat gehört. Sollte ein ohnehin schon sehr konfliktbeladenes Arbeitsfeld (siehe Übergriffe in Frankfurt, Neuss und Leipzig) mit so etwas zusätzlich belastet werden?

Wie sehen Sie diese Situation und wie würden Sie dieser begegnen, wenn Sie in den kommenden Bundestag gewählt werden?

Portrait von Roman-Hartmut Wauer
Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Geist,

vielen Dank für Ihre Frage.

Als Sprecher von GewerkschaftsGrün auf Bundesebene liegt besonders viel am Thema sozialer Gerechtigkeit. Ich sehe es wie Sie, wir haben durchaus ein Leistungsdickicht mit sich ausschließenden Verzahnungen, unterschiedlichen Leistungserbringern und im Fall von BAFöG gegenüber Erwerbseinkommen auch abweichenden Freibeträgen, also uneinheitlichen Berechnungsgrundlagen.

Das für einen normalen Bürger zu verstehen, ist nicht einfach. Ich habe mit Bürgermeistern gesprochen, die mir von Fällen erzählen, in denen ältere Hilfesuchende und Bezugsberechtigte nicht nur aus Scham, sondern auch aus Unwissenheit und Angst vor dem Berg an Formularen freiwillig auf zustehende Leistungen verzichten. Jobcenter und Sozialämter sollten sich darauf konzentrieren können Menschen zu Helfen, z.B. bei der Suche nach Arbeit bestmöglich zu unterstützen. Die (Dauer-)Verwaltung von Arbeitsuchenden im Sozialsystem und Beschäftigung bei Formular-Rallys sollte nicht deren Hauptaufgabe sein.

Man könnte fast auf den Gedanken kommen, dass das Leistungs- und Antragsdickicht eine elegante und unanfechtbare Art der Leistungsverweigerung unseres Sozialsystems ist.

Es gibt zwei Antworten auf Ihre Frage. Beide werden Sie mit Sicherheit nicht unmittelbar und in der nächsten Legislaturperiode zufrieden stellen. Erstens: Wir hätten die Chance, mit einer Änderung des Steuerrechts hin zu einer negativen Einkommenssteuer, das soziale Netz zukunftsfest zu machen und den Hilfesuchenden Würde zurück zu geben. Als individualisierte Leistung könnte es Kindergeld, BAFöG und in prekären Situationen auch Leistungen nach ALGII ersetzen und den Weg zu einer Garantierente öffnen. Durch die Mechanik der Steuer würde im Einzelfall eine Bedarfsprüfung entfallen. Übrig bleiben ergänzende Leistungen, wie z.B. Wohngeld. Das setzt aber voraus, dass wir in der Lohn- und Einkommenssteuer einen Paradigmenwechsel vollziehen. Weg vom System der Freibeträge vor Steuerberechnung hin zu einem Steuerabzug nach Berechnung der Steuerschuld. Dies erscheint mir die Nachhaltigste Lösung zu sein.

Der zweite Weg ist nicht minder einfach: Eine tiefgreifende Reform unseres Sozialsystems im laufenden Betrieb zwischen Bund und Länder, mit dem Ziel, dass Leistungsdickicht auszuforsten. Im Zuge der Föderalismus-Kommission ein gangbarer Weg.

Beides kann nur mit einem starken Koalitionspartner und mit breiter Unterstützung durch die Wählenden geschehen. Deshalb ist es wichtig, dass wir gemeinsam am 22.9. dafür Sorge tragen, dass wir unsere Errungenschaften in einem erfolgreichen und bewährten Sozialstaat bewahren und weiter ausbauen.

Mit freundlichen Grüßen
Ihr
Hartmut Wauer