Ist das Kindeswohl fiskalisch weniger wert als eine Nachbarschaftssache? Sind 230 Minuten pro Kindeswohlgefährdungssache an Familiengerichten im Vergleich zu 330 Min. pro Nachbarschaftssache ok?
Richter am Amtsgericht Kiel Fahl schrieb 2015 in einem juristischen Fachblatt: "Letztlich sollte sich auch die Justizverwaltung die Frage stellen, welchen Wert sie Kindern und Verfahren, die Kindeswohlgefährdungen zum Gegenstand haben, zumisst. Die personelle Ausstattung der Familiengerichte mit 230 Minuten pro Fall – vom ersten Lesen des Antrags über die Vorbereitung und Durchführung der Verhandlungstermine, die Anhörung des Kindes bis zum letzten Korrekturlesen der Beschlüsse – ist nicht als üppig zu bezeichnen. Eine Reisevertragssache oder ein Verkehrsunfall sind nach Geschäftsnr. RA 053 ebenfalls 230 Minuten wert, eine Nachbarschaftssache nach Geschäftsnr. RA 015 immerhin schon 330 Minuten, ein güterrechtliches Verfahren nach Geschäftsnr. RA 070 mit fast 450 Minuten nahezu doppelt so viel." Ist das Kindeswohl für den Staat fiskalisch weniger wert als eine Nachbarschaftssache? Hat sich der Wert in den 8 Jahren der SPD-geführten Familien- und Justizministerien bundesweit gebessert?
Sehr geehrter Herr H.,
vielen Dank für die erneute Frage zu diesen Thema.
Vorweg: die durchschnittlichen Bearbeitungszahlen werden nicht politisch bestimmt, sondern in regelmäßigen Abständen in der Praxis erhoben.
Zum Hintergrund: Seit 2002 gibt es ein System, mit dem der Personalbedarf an den Gerichten und Staatsanwaltschaften berechnet wird, abgekürzt PEBB§Y. Entworfen hat es eine Unternehmensberatung im Auftrag einer gemeinsamen Kommission der Justizbehörden der Länder und des Bundes. Grob funktioniert es so: Alle paar Jahre schreibt eine möglichst repräsentative Auswahl Richter, Staatsanwälte und Rechtspfleger auf, wie lange sie für die Bearbeitung einer bestimmten Fallgruppe, etwa Jugendstrafsachen an Amtsgerichten, brauchen. Daraus wird, kombiniert mit einem komplizierten System von Faktoren, ein Wert ermittelt. Weiß ein Justizministerium, wie viele Fälle aus den jeweiligen Fallgruppen ein bestimmtes Gericht bearbeitet, lässt sich so errechnen, wie viel Personal dort nötig ist.
Der Grund, warum in der Praxis Nachbarschaftsstreitigkeiten durchschnittlich länger verhandelt werden als Familienrechtssachen, liegt sicherlich zum einen daran, dass die Familiengerichte - gerade, wenn Kinder involviert sind - um ein möglichst zügiges Verfahren bemüht sind, um die Kinder mit langwierigen Gerichtsverfahren nicht zusätzlich zu belasten und zum Wohle der Familie klare Verhältnisse zu haben. Es sollte auch berücksichtigt werden, dass es sich um durchschnittliche Bearbeitungszeiten einer Sache handelt, d.h. auch unkomplizierte Scheidungen von kinderlosen Paaren, die sich über die Auflösung der Ehe einig sind, zählen hier mit rein, oder unkomplizierte Adoptionen, z.B. in lesbischen Partnerschaften, die durch eine Samenspende ein Kind bekommen. Diese Verfahren benötigen nicht so viel Zeit, so dass für die komplizierteren Familiensachen mehr Zeit bleibt.
Dass dem Staat das Kindeswohl in der Justiz egal ist, stimmt nicht. Gerade in dieser Legislatur haben sich die SPD-Fraktion und die zuständigen SPD-geführten Ministerien intensiv für eine kindersensible Justiz engagiert, die die Belange der Kinder in Strafrechts-, Kinderschutz- und Familienrechtsverfahren besser berücksichtigt. Die Verfahren müssen wegen der Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit der Kinder und Jugendlichen verständig und einfühlsam geführt werden. Dazu haben wir ein Beschleunigungsgebot in Strafverfahren mit minderjährigen Opferzeugen in der Strafprozessordnung verankert, damit Kinder nicht unnötig mit laufenden Verfahren belastet werden. Außerdem haben wir spezifische Qualifikationsanforderungen für FamilienrichterInnen, JugendrichterInnen und -staatsanwälte sowie Verfahrensbeistände eingeführt. Ferner haben wir Rahmenbedingungen für Kindesanhörung überarbeitet und ergänzt. Hilfreich sind hierbei interdisziplinäre Fortbildungen zur Vermittlung psychologischer Kompetenz für Familien- und Jugendrichterinnen und -richter. Diese Bemühungen wollen wir in der kommenden Legislaturperiode fortsetzen, am liebsten mit einer SPD-geführten Bundesregierung.
Mit freundlichen Grüßen
Rolf Mützenich