Frage an Roderich Kiesewetter von Tamer L. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Erstmals in der Geschichte Israels sind die umfangreichen und völkerrechtswidrigen Annexionspläne im Westjordanland im Koalitionsvertrag der „Einheitsregierung“ unter Benjamin Netanjahu festgehalten. „Es ist Zeit, israelisches Recht anzuwenden und ein weiteres glorreiches Kapitel in der Geschichte des Zionismus aufzuschlagen“, erklärte Netanjahu in Bezug auf die im Koalitionsvertrag festgehaltenen Annexionen. Ab dem 1. Juli sollen Teile des Westjordanlands annektiert werden. Wie stehen Sie zu der geplanten Annexion der besetzten palästinensischen Gebiete?
Erkennen Sie die Souveränität Israels über die palästinensischen Gebiete an?
Was halten Sie von Sanktionen gegen die israelische Regierung, falls diese die Umsetzung der völkerrechtswidrigen Annexionspläne tatsächlich durchführt?
Sehr geehrter Herr L.,
am 17. Mai 2020 ist in Israel eine neue Koalitionsregierung unter Führung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und seinem bisherigen Herausforderer Benjamin Gantz vereidigt worden. Vor dem Hintergrund der Coronavirus-Pandemie einigten sich beide auf die Bildung einer Regierung des Nationalen Notstands, die sich im Parlament auf eine breite Mehrheit stützen kann.
Die im Koalitionsvertrag der neuen israelischen Regierung in Aussicht gestellte Annexion von Teilen des Westjordanlands birgt das Risiko einer neuerlichen Destabilisierung der Region. Premierminister Netanjahu hat mehrfach angekündigt, dass Anfang Juli ein entsprechender Plan vorgelegt werden soll. Eine solche einseitige Erklärung israelischer Souveränität könnte das Ende der Zweistaatenlösung, für die die EU und die große Mehrheit der Staaten der internationalen Gemeinschaft nach wie vor eintreten und zu der sich die beiden Konfliktparteien im Abkommen von Oslo 1993 bekannt haben, bedeuten und damit erhebliche Auswirkungen auf den Friedensprozess des Nahen Ostens und die regionale Stabilität haben. Sie würde zudem im Widerspruch zu einschlägigen VN-Resolutionen und damit zu internationalem Recht stehen, ebenso wie der Ausbau von Siedlungen, auch in strategisch kritischen Bereichen. Auch damit würde den Verhandlungen über eine Zweistaatenlösung in wichtigen Fragen einseitig vorgegriffen und die Umsetzbarkeit einer verhandelten Zweistaatenlösung zunehmend fraglich erscheinen.
Durch meine vielen Reisen in die Region bin ich allerdings zu der Auffassung gekommen, daß Diskussionen über einseitige Sanktionen oder Sanktionsandrohungen keine konstruktive Wirkung auf einen israelisch-palästinensischen Ausgleichs- oder Verständigungsprozess haben.
Herzliche Grüße
Ihr Roderich Kiesewetter