Frage an Rainer Stinner von Andreas P. bezüglich Innere Sicherheit
Sehr geehrter Herr Dr. Stinner,
ich schätze Sie als außen- und sicherheitspolitischen Pragmatiker.
Der britische Nachrichtenservice Mirror.co.uk berichtete heute, Großbritannien werde binnen kürzerer Zeit 1.700 weitere Soldaten nach Afghanistan entsenden. Diese Entscheidung des britischen Verteidigungsministers Hutton steht im zeitlichen Zusammenhang zu einer möglichen Verstärkung von bis zu 30.000 Soldaten, die der neue US-Präsident Obama in das Land entsenden will.
Verteidigungsminister Jung sagte unlängst der WELT, er glaube, die ISAF sei zusammen mit der afghanischen Armee und den angekündigten Aufstockungen bereits stark genug, um erfolgreich zu arbeiten. Ist dies ein Anzeichen dafür, dass Deutschland keine weiteren Truppen mehr an den Hindukusch entsenden wird?
Könnten Sie sich vorstellen, dass eine schwarz-gelbe Koalition auf Bundesebene - sowohl im Wahlkampf, als auch nach dem möglichen Zustandekommen im Herbst - eine weitere Aufstockung des Bundeswehrkontingents und eine Ausweitung seiner Befugnisse bewerben und im Gegenzug einen verbindlichen Abzugstermin nennen wird? Dieses "Ende mit Schrecken" erscheint als einzig vernünftige Alternative zu einem "Schrecken ohne Ende", nämlich dem Nichterreichen der in Afghanistan gesteckten Ziele zum einen und fortwährender Kritik der Partner an Deutschlands mangelnder Bündnistreue zum anderen.
Ferner würde mich interessieren, ob die Rolle der Bundeswehr in Afghanistan (d.h., vor allem Befugnisse und Einsatzraum) Ihrer Meinung nach mehr von politischen oder mehr von militärischen Faktoren bestimmt wird? Der Hintergrund dieser letzten Frage: Bislang schien die Bundesregierung bestrebt, auf dem Thema Afghanistan in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit den Deckel draufzuhalten. Gleichermaßen scheint die militärische Führung überzeugt zu sein, dass der jetzige Einsatzrahmen die Streitkräfte bereits voll auslastet.
Mit freundlichem Gruß,
Andreas Politschek
Sehr geehrter Herr Politschek,
herzlichen Dank für Ihre Frage.
Grundsätzlich: Für mich ist die Vorstellung nicht akzeptabel, dass die Bundeswehr noch 15 Jahre in Afghanistan ist. Wir müssen uns strategisch auf die Schaffung selbsttragender Sicherheitsstrukturen konzentrieren. Wenn die afghanische Polizei und Armee in der Lage sind, die Sicherheit ihres Landes selbstständig zu gewährleisten, dann ist der Gesamtabzug der internationalen Truppen möglich und geboten. Diese Entwicklung wird sich stufenweise vollziehen. In Kabul ist die Verantwortung bereits an die Afghanen übergegangen, in einem nächsten Schritt ist dies in Nord-Afghanistan in der Provinz Balkh vorgesehen. Die afghanische Armee soll bis zum Jahr 2012 ihre Soll-Stärke erreichen. Um diesen Prozess - im Sinne einer "Exit-Strategie" - planmäßig zu ermöglichen, kommt der Quantität und Qualität von Beratern der afghanischen Sicherheitskräfte entscheidende Bedeutung zu.
Während meiner Afghanistan-Reise im Januar sind an mich keine Wünsche bezüglich deutscher Truppenverstärkung herangetragen worden. Ich erwarte auch nicht, dass unsere Verbündeten dies fordern. Dazu ist die innenpolitische Lage zu gut bekannt. Außerdem ist Deutschland heute bereits ein wesentlicher Truppensteller in Afghanistan, wir sollten da auch unser Licht nicht unter den Scheffel stellen.
Wo wir - Deutsche und Europäer - aber ganz, ganz schnell besser werden müssen, ist der Bereich Polizeiaufbau. Ich war entsetzt, während meiner Reise zu sehen, dass EUPOL praktisch kurz vor dem Zusammenbruch steht. Hier ist wesentlich mehr Anstrengung erforderlich. Weiterhin muss die geläufige Rhetorik, dass Militär und Aufbau zusammengehören, besser und stringenter umgesetzt werden. Dies nicht nur auf internationaler Ebene, sondern gerade auch hier in Deutschland. Bislang sehe ich von einer Koordination zwischen Verteidigungsminister und Entwicklungshilfeministerin wenig.
Verbesserung in diesen Beriechen halte ich für wichtiger, als mehr Soldaten. Deshalb setze ich mich vornehmlich dafür ein.
Die Rolle, der Einsatz, der Einsatzraum sowie die Befugnisse werden nach meiner Meinung eindeutig politisch determiniert. Ich teile Ihre Einschätzung, dass die Bundesregierung bemüht ist, bei der Wahrnehmung des Afghanistan-Einsatzes "eher den Deckel draufzuhalten". Über diese politisch motivierte Definition des Einsatzes gibt es aber natürlich auch militärisch bedingte deutliche Grenzen. Einige Kapazitäten sind einfach nicht ausreichend (Hubschrauber) oder gar nicht (Combat Search and Rescue) vorhanden oder an der Grenze der Belastbarkeit (Sanität, Feldjäger).
Mit besten Grüßen
Rainer Stinner