Frage an Rainer Stinner von Alfred M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Finden Sie nicht auch, daß die Abstimmung über eine Verfassung wie der für Europa nicht in einem Stück erfolgen sollte, sondern die Bürger über die strittigen Punkte mitentscheiden können sollten. Wenn ein Bürger eine einzige Regelung absolut nicht mittragen will, muß er das ganze Werk ablehnen. Da viele Bürger auch viele unterschiedliche Bedenken haben, kann es zu keiner Zustimmung zur ganzen Erfassung kommen, obwohl die Bürger der Verfassung zu vielleicht 99 % zustimmen könnten.
Konkret:
Der Bürger sollte der Verfassung mit Ausnahme ihm bedenklich erscheinender Punkte zustimmen können. Wenn die kritischen Punkte von einer Mehrheit abgelehnt würden, kämen wenigstens im übrigen Teile der Verfassung zustande. Über den Rest könnten die Gremien nochmals beraten. Es kann doch gut sein, daß dann eine konsensfähige Fassung der Streitpunkte gefunden werden könnte. In einer weiteren Abstimmung könnte auch noch der Rest geklärt werden.
Ich weiß, daß Sie der falsche Ansprechpartner sind, aber evt. haben Sie in der Oppositionsrolle Zeit und Lust, sich auch mal um "Nebensächliches" zu bemühen.
Sehr geehrter Herr Mayer,
herzlichen Dank für Ihre Frage. Der Vorschlag, über einzelne Elemente einer Verfassung getrennt abzustimmen ist naheliegend, meiner Meinung nach aber trotzdem falsch: Eine Verfassung ist eben keine Ansammlung einzelner Bestimmungen, über die man getrennt entscheiden könnte, sondern sie bildet ein Gesamtsystem, bei dem Änderungen in einem Punkt immer auch Auswirkungen auf ganz andere Bereiche haben. Z.B. beinhaltet die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen einen deutlichen Souveränitätsverlust der Nationalstaatlichen Ebene. Dem kann ich unter anderem deshalb zustimmen, weil durch die in der Verfassung enthaltenen Grundrechtecharta die in unserem Grundgesetz verbürgten Rechte auch in Europa uneingeschränkt gelten. Ebenso wichtig ist für mich, dass das europäische Parlament mehr Rechte durch die neue Verfassung erhält, als bisher. Wäre dies nicht der Fall, hätte ich mit der Übertragung weiterer Kompetenzen auf die Europäische Ebene große Probleme. Es gibt noch eine Reihe mehr Beispiele, aber ich denke das Prinzip ist klar.
Der von Ihnen vorgeschlagene Abstimmungsmodus würde die große Gefahr mit sich bringen, dass am Ende einzelne Bestimmungen keine Mehrheit erhalten, ohne die die Gesamtverfassung nicht funktionieren kann. Die Bürger Europas stehen bei einer Volksabstimmung über die Verfassung vor dem gleichen Problem, das wir Politiker auch regelmäßig haben: Insgesamt sind wir mit einem Gesetzentwurf zwar zufrieden, aber einige Einzelheiten lehnen wir ab. In diesen Fällen muss man abwägen, ob einem diese Einzelpunkte wirklich wichtig genug sind, um das Gesamtwerk abzulehnen. Diese Entscheidung kann Ihnen niemand abnehmen.
Dr. Rainer Stinner MdB