Frage an Rainer Stinner von Benjamin F. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrter Herr Dr. Stinner,
in einer Pressemitteilung vom 18.1. kommentieren Sie die „dramatischen Ereignisse“ in Tunesien und stellen für alle arab. Länder ähnliche Probleme fest: wirtsch. Stagnation, Perspektivlosigkeit, die Unterdrückung freier Zivilgesellschaften. „Die Bundesregierung hat hier schnell und richtig reagiert, mit dem klaren Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.“
Diese Probleme lassen sich auch in der EU feststellen. In Italien herrscht ein neuer Typus von Regime, das sich durch eine Konzentration an wirtsch., medialer und polit. Macht auszeichnet. Jeder Italienisch-Sprechende kann sich ein Bild über den Stand der Informations- und Medienfreiheit machen. Es dominieren Propaganda und Zensur.
Alles deutet darauf hin, dass Italien kurz vor einem historischen Wendepunkt steht.
Die Bevölkerung wird Berlusconis Prozessverfahren (permanent verabschiedet das Regime Gesetze, um ihn+Vertraute vor laufenden und künftigen Verfahren zu schützen), die Skandale und kriminellen Machenschaften nicht mehr verzeihen. Seit 6 Monaten ist die Regierung nur noch damit beschäftigt, irgendwie die Macht zu erhalten - inmitten der Finanz- und Eurokrise. Es handelt sich immerhin um die 3. Volkswirtschaft der Eurozone.
Proteste gibt es seit Wochen, in den nächsten Tagen und Wochen wird ganz Italien von massiven Demonstrationen erfasst werden.
1. Sind die Vorgänge in Italien ein Thema in den entsprechenden Ausschüssen, spielt das Thema eine Rolle für die Bundesregierung, speziell für den Außenminister Ihrer Fraktion und für Sie?
2. Der Höhepunkt ist noch längst nicht erreicht. Entweder wird es der italienischen Zivilgesellschaft gelingen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen oder das bestehende Regime wird auch die nächsten Jahre mit allen negativen Konsequenzen (auch für die EU) überdauern.
Wie stehen Sie zu einem Bekenntnis der Bundesregierung zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Italien?
Mit freundlichen Grüßen,
Benjamin Frick
Sehr geehrter Herr Frick,
ich halte jeden Vergleich zwischen Italien und Tunesien für völlig unangemessen. Es gibt sicherlich in der italienischen politischen Kultur viele Dinge, die zu kritisieren sind, die auch öffentlich kritisiert werden, gerade auch von Italienern selber. Der wesentliche Unterschied ist aber, dass es in Italien keine politische Unterdrückung gibt. Sollte sich dort jemand in seinen politischen und Menschenrechten eingeschränkt sehen, so steht jedem Italiener der Weg zum Europäischen Gerichtshof und zum Europäischen Menschenrechtsgerichthof offen, wenn er vor heimischen Gerichten keinen Erfolg hat. Diese Möglichkeit hat es für keinen Tunesier gegeben. Schon allein das ist ein ganz entscheidender Unterschied.
In Demokratien erfolgt ein "Regime-Change" durch freie Wahlen, und zur Demokratie gehört auch, die Wahlentscheidung von Mehrheiten zu respektieren. Wir müssen akzeptieren, dass Berlusconi in demokratischen Wahlen Mehrheiten errungen hat, seine Gegenkandidaten hingegen nicht. Das mag man bedauern, aber es ist zu respektieren. Durch Vergleiche einer politisch unliebsamen Regierung mit einem autokratischen System, in dem Wahlen immer nur eine Fassade waren und nie wirklich frei entwertet unsere Begriffe von Demokratie, Freiheit und Menschenrechte und deshalb lehne ich solche Vergleiche kategorisch ab.
Mit freundlichen Grüßen
Rainer Stinner