Frage an Patrick Breyer von Anna S. bezüglich Europapolitik und Europäische Union
Sehr geehrter Herr Breyer,
Die wegen der aktuellen Coronapandemie getroffenen Maßnahmen der nationalen Regierungen bereiten mir Sorge, mehr noch als das Virus selbst.
Zum einen halte ich das Verhalten der ungarischen Regierung für inakzeptabel. Rechtsstaatlichkeit ist nicht verhandelbar. Welche Möglichkeiten stehen der EU offen, Ungarn zu einem Umlenken zu bewegen?
Zum anderen halte ich Grenzschließungen zwischen Regionen, in denen das Virus annähernd gleich weit verbreitet ist, für höchst fragwürdig. Davon sind nämlich insbesondere diejenigen betroffen, die in den unmittelbaren Grenzregionen leben und die in ihrem täglichen Alltag die offenen Grenzen bisher als selbstverständlich erleben durften. Manche Städte, beispielsweise Passau, liegen in zwei Ländern, da sie sich über die Grenze hinweg ausgedehnt haben. Mich trifft das ganz persönlich. Meine Wohnung dort ist sowohl von Supermärkten als auch von der Universität abgeschnitten. Würde der Universitätsbetrieb wieder vor Ort stattfinden, die Grenzen wären aber noch geschlossen, wäre ich nicht in der Lage, weiter zu studieren. Das liegt auch daran, dass der Grenzübergang so klein ist, dass er nicht kontrolliert wird, und damit auch keine Ausnahmen möglich sind.
Gerade die kleinen Grenzübergänge müssen also, sofern sie nicht kontrolliert werden können, geöffnet bleiben: Die sonst folgenden Eingriffe in die Freiheit der dort lebenden Menschen wären sonst in meinen Augen nicht mehr zu rechtfertigen.
Was halten Sie von den Grenzschließungen? Wie kann gerade im Hinblick auf die Binnengrenzen eine europäische Lösung gefunden werden?
Mit freundlichen Grüßen,
Anna Schmitt
Sehr geehrte Frau Schmitt,
vielen Dank für Ihre Frage und Ihr Vertrauen, sich an mich zu wenden.
Zunächst einmal bitte ich um Entschuldigung für die verzögerte Antwort,
die Einschränkungen durch das Corona-Virus machen auch vor dem
Parlamentsbetrieb keinen Halt und beeinflussen unsere administrativen
Abläufe und das Tagesgeschäft – ich bitte an dieserStelle um Verständnis.
Auch ich verurteile das Verhalten der ungarischen Regierung und sind
besorgt hinsichtlich der Abschaffung des Rechtsstaates dort.
Und auch die Situation an europäischen Grenzen sehe ich sehe kritisch.
Dabei geht es weniger um die Wiedereinführung der Grenzkontrollen (nach
dem Schengener Grenzkodex), sondern um die Einschränkung der
Freizügigkeit (nach der Freizügigkeitsrichtlinie). Im Europäischen
Parlament verurteilen wir derartige Beschränkungen und haben die
Mitgliedsstaaten bereits nachdrücklich aufgefordert, nur notwendige,
aufeinander abgestimmte und verhältnismäßige Maßnahmen zu ergreifen,
wenn es um Reisebeschränkungen oder die Einführung und Verlängerung von
Kontrollen an den Binnengrenzen geht. Dies soll ausschließlich nach
sorgfältiger Bewertung der Wirksamkeit dieser Maßnahmen in Bezug auf die
öffentliche Gesundheit und auf der Grundlage geltender
Rechtsvorschriften geschehen.
Wir treten dafür ein, dass Grenzkontrollen und Beschränkungen der
Freizügigkeit verhältnismäßig und außergewöhnlich bleiben müssen und
dass die Freizügigkeit vollständig wiederhergestellt wird, sobald dies
als machbar erachtet wird.Gemeinsam mit meiner Fraktion der Greens/EFA
gehe ich sogar weiter und fordere die vollständige Abschaffung aller
Einschränkungen der Freizügigkeit von EU-Bürgern und ihre
Familienangehörigen - angefangen bei Grenzgängern.
Warum wird nun allerdings derzeit nichts gegen nationale
Grenzschließungen getan? Leider ist es in der Praxis höchst
unwahrscheinlich, dass die Europäische Kommission ein
Vertragsverletzungsverfahren gegen ein Land einleiten würde - auch wenn
die Maßnahmen einiger Länder als unverhältnismäßig zu sehen sind. Das
einzige wirksame Instrument, um gegen solche vorzugehen, wäre daher jede
Einreiseverweigerung unter Berufung auf die Freizügigkeitsrichtlinie vor
dem nationalen Gericht anzufechten.
Bleiben Sie gesund und beste Grüße
Dr. Patrick Breyer