Frage an Ottmar Schreiner von Gerhard B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Schreiner,
ich wende mich an sie mit der Frage, warum der Artikel 146 des Grundgesetzes, der eine gemeinsame Verfassung des vereinten Deutschland vorsieht, bis auf den heutigen Tag, nach über 18 Jahren der Wiedervereinigung, noch nicht umgesetzt worden ist.
Inwieweit sind Sie bestrebt, auf die Umsetzung dieses Artikels hinzuwirken und was unternehmen Sie konkret um für eine gemeinsame Verfassung einzutreten?
Sehr geehrter Herr Bandorf,
vielen Dank für Ihre Frage. Das Grundgesetz wurde am 23. Mai 1949 im besetzten Westdeutschland verkündet. Klar war, dass es diesem Grundgesetz an Legitimität fehlte. Einerseits wurde es nicht direkt vom Volk verabschiedet, sondern allein vom Parlamentarischen Rat; andererseits war es ohne Beteiligung derjenigen Deutschen zustande gekommen, „denen mitzuwirken versagt war“. Aus diesen beiden Gründen entstand das Grundgesetz als ein Provisorium: Langfristig sollte eine vom Volk legitimierte Verfassung verabschiedet werden.
Theoretisch liegen Sie deswegen richtig, wenn Sie nach einer solchen Verfassung streben. Dennoch bin ich fest überzeugt, dass unser Grundgesetz heute dieselbe Legitimität hat wie diejenigen der anderen großen Demokratien Europas, weshalb keine „Verfassung“ notwendig ist.
Was den angeblichen Mangel an Volkslegitimität anbelangt, wurde zwar kein bundesweites Referendum organisiert. Durch wiederholte Wahlen auf Bundes- und Landesebene hat aber das deutsche Volk das Grundgesetz als seine gültige Verfassung indirekt anerkannt. Wer mitspielt, der nimmt die Spielregeln an. Eine Demokratie lebt in ihrer Essenz vom Willen des Volkes, wie Art. 20, Abs. 2 GG es klar sagt: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“
Auch die Kritik, das Grundgesetz gälte nicht für das gesamte deutsche Volk, da es von den neuen Bundesländern nicht angenommen wurde, teile ich nicht: Der am 31. August 1990 von der DDR unterzeichnete Einigungsvertrag sah den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes voraus. In den zwei Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung zeigten zudem die Bürger der neuen Bundesländer durch Wahlbeteiligung klar, dass sie das Grundgesetz als Verfassung des gesamten deutschen Volkes anerkannten. Man kann natürlich darüber diskutieren, inwiefern die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten durch eine Diskussion über eine gemeinsame Verfassung besser gelungen wäre, allerdings muss ich ehrlich sagen, dass dies bei mir nach dieser langen Zeit und im Angesicht der drängenden Probleme keine Priorität hat.
Mit freundlichen Grüssen,
Ottmar Schreiner