Frage an Norman Paech von Christian R. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Prof. Dr. Paech,
in der aktuellen Online-Ausgabe der ZEIT wird über die Diskussion berichtet, die Ihre Parteigenossin Christiane Schneider mit ihrem Vergleich des Dalai Lama mit Ayatollah Khomeini ausgelöst hat.
Quelle: http://www.zeit.de/news/artikel/2008/04/03/2506562.xml
In diesem Artikel wird auch über ein Statement von Ihnen berichtet, welches sinngemäß lautet, dass der tibetische Bhuddismus wegen reaktionärer Tendenzen abzulehnen sei. Außerdem treffen Sie (laut ZEIT) eine Unterscheidung in "soziale" und "politische" Menschenrechte und behaupten, die "politischen" Menschenrechte müssten gegebenenfalls zugunsten der "sozialen" Menschenrechte vernachlässigt werden.
Falls dies tatsächlich die von Ihnen vertretenen Positionen sein sollten, ergeben sich für mich hieraus vier Fragen:
1) Was genau veranlasst Sie dazu, das bhuddistische Gesellschaftsbild als reaktionär zu verurteilen und welche Konsequenzen sollten sich Ihrer Meinung nach daraus für die Anhänger des Bhuddismus in Deutschland ergeben?
2) Welche Menschenrechte zählen Ihrer Ansicht nach zu den "sozialen", welche nur zu den "politischen" Menschenrechten und unter welchen Umständen ist es gerechtfertigt, ein "politisches" Menschenrecht aufzuheben oder einzuschränken um ein "soziales" Menschenrecht durchzusetzen?
3) Wer sollte Ihrer Ansicht nach das Recht besitzen unter welchen Umständen zu entscheiden, wann ein Menschenrecht zugunsten eines anderen Menschenrechts aufzuheben oder einzuschränken ist?
4) Da Sie der chinesichen Regierung diese Entscheidung offenbar zubilligen, ergibt sich für mich abschließend noch die Frage, um welches "soziale" Menschenrecht es sich denn eigentlich genau handelt, welches momentan von der chinesischen Regierung in Tibet geschützt wird und welche "politischen" Menschenrechte genau zum Schutz dieser "sozialen" Menschenrechte zurückstehen müssen?
In gespannter Erwartung Ihrer Antwort verbleibe ich
mit freundlichen Grüßen
Christian Reinboth
Sehr geehrter Herr Reinboth,
der Beantwortung Ihrer Fragen im Einzelnen möchte ich vorausschicken, dass das Hamburger Abendblatt, auf das sich die ZEIT bezieht, meine Äußerungen zum Verhältnis von politischen zu sozialen Menschenrechten leider verzerrt wiedergegeben hat. Ich erlaube mir deshalb, Sie zusätzlich auf einen Text zu verweisen, in dem ich u. a. meine Auffassung von der Gleichrangigkeit politischer und sozialer Menschenrechte präziser dargelegt habe: http://www.norman-paech.de/413.html.
zu 1)
Grundsätzlich beanspruchen Religionen, auch der Buddhismus, über eine unverhandelbare Wahrheit qua Offenbarung zu verfügen, und dass das Maß an Teilhabe an dieser Offenbarung über Rang und Wert des einzelnen Menschen entscheidet. Ein auf Offenbarung beruhender Wahrheitsbegriff ist m. E. bereits an sich problematisch, weil er bei der Konfrontation mit einer „anderen Wahrheit“ (die es für einen Gläubigen ja per definitionem nicht geben kann) zu einer unversöhnlichen Situation führt. Ein solcher „Widerstreit“ (Lyotard) kann auf diskursivem Wege nicht aufgelöst werden, ohne den Kern des Religiösen selbst aufzulösen. Das Beharren auf dem religiösen Kern, d. h. die Stärke einer Orthodoxie, führt unweigerlich dazu, Deutungs- und Wertkonflikte mit gewaltsamen Mitteln auszutragen. Das hat die Geschichte leider allzu oft gezeigt, und das zeigt sich auch heute noch. Die religiöse Rangordnung manifestiert sich als Form der Herrschaft von Menschen über Menschen, in Klöstern oder größeren Gebilden (wie den sog. „Gottesstaaten“, die man auch als riesige Freiluft-Klöster betrachten kann). Stets beanspruchen die religiös „Eingeweihten“ für sich das Privileg, die Lebensführung der weniger „Initiierten“ zu reglementieren – sie für sich arbeiten zu lassen, ihre Äußerungen einer Zensur zu unterwerfen, Verstöße gegen die „geoffenbarten“ Regeln zu ahnden. Insoweit gewährleistet ist, dass der Eintritt in eine solche Glaubensgemeinschaft auf freiwilliger Basis erfolgt und es dem Einzelnen jederzeit möglich ist, die Gemeinschaft ohne Nachteile wieder zu verlassen, kann ich die Existenz solcher Gemeinschaften tolerieren.
Nicht akzeptieren kann ich es, wenn die Freiheit zum und vom Bekenntnis nicht gegeben ist, wenn Glaubensordnungen beanspruchen, ihre „Offenbarung“ müsse für alle Menschen verbindlich sein und versuchen, das gesellschaftliche Leben auch derer, die nicht oder anders gläubig sind, unter ihre Kontrolle zu bekommen. Unter diesem Blickwinkel betrachte ich beispielsweise die buddhistische Praxis, klösterlichen Nachwuchs bereits im Kleinkindalter zu rekrutieren, als Verstoß gegen das Recht auf individuelle Selbstbestimmung der Person. Der tibetische Buddhismus im Besonderen hat vor dem Einmarsch der Chinesen (und noch eine Weile danach) eine Gesellschaftsform aufrechterhalten, die für die weit überwiegende Mehrheit der Menschen Leibeigenschaft und Sklaverei bedeutete. Der größte Teil der Bevölkerung wurde durch das Klostersystem ausgebeutet, drakonische Strafen wie Verstümmelung und Hinrichtungen waren an der Tagesordnung. Ich hoffe, dass westliche Buddhisten die Wiedererrichtung dieser Gesellschaftsordnung nicht für erstrebenswert halten und auch nicht anstreben, wenn sie Solidarität mit Tibet und Schutz der tibetischen Kultur einfordern. Der Schutz dieser Kultur ist übrigens eines der Kernelemente des Selbstbestimmungsrechts eines jeden Volkes. Ich möchte auch dem Dalai Lama nicht absprechen, einen langwierigen und komplizierten Lernprozess seit seiner Zeit als absolutistischer Herrscher einer Sklavenhaltergesellschaft durchlaufen zu haben. Ich begrüße es, dass er seit einigen Jahren Demokratie predigt, und ich hoffe, dass er das nicht nur aufgrund der strategischen Überlegungen seiner PR-Berater tut. Gleichwohl bin ich irritiert über seine früheren herzlichen Verbindungen zu Nationalsozialisten, sein Engagement für den chilenischen Ex-Dikator Pinochet und seine Freundschaft zu Shoko Asahara, dem für den Giftgasanschlag auf die Tokioter U-Bahn verantwortlichen Chef der Aum-Sekte. Auch seine Sicht auf die ungerechte Reichtumsverteilung – wenn er den Armen predigt, sie sollten sich mit ihrer Armut abfinden, und den Reichen, sie sollten ihren Reichtum ruhigen Gewissens genießen – empfinde ich als unangebracht.
zu 2) und 3)
Zu den sozialen Menschenrechten zähle ich z. B. das Recht auf Nahrung, Kleidung, Wohnung, Bildung und Gesundheitsversorgung, zu den politischen z. B. das Recht auf Meinungsfreiheit, das Recht auf faire Gerichtsverfahren, das Recht, sich gemeinsam in Form von Parteien, Verbänden usw. zu organisieren, das Recht auf Religionsfreiheit und die Freiheit der Kunst. Diese Rechte sind alle in den beiden internationalen Pakten über politische und bürgerliche sowie soziale, ökonomische und kulturelle Rechte von 1967 aufgezählt. Wie bereits erwähnt, sind für mich soziale und politische Menschenrechte prinzipiell gleichrangig. In konkreten Konfliktfällen kann die Entscheidung darüber, welchem Rechtsanspruch der Vorzug zu geben ist, nur einer unabhängigen Gerichtsbarkeit obliegen. Und deren Maßstab kann nichts anderes als die Menschenwürde sein.
Für die mögliche Einschränkung eines Anspruchs kann man deshalb kaum allgemeine, für alle Fälle geltende Bedingungen angeben. Beispiele für die gerechtfertigte Einschränkung eines politischen Rechts zugunsten eines sozialen geben etwa Fälle, die bei uns unter dem Stichwort „Volksverhetzung“ verhandelt werden: Meinungsäußerungen, die dazu aufstacheln, bestimmte Menschen oder Menschengruppen von der Wahrnehmung ihrer sozialen Rechte auszuschließen, sind verboten. Ebenso ist die Aufforderung zum Krieg verboten. Wenn Sie wollen, bin ich somit Anhänger der „säkularen Religion“ der Menschenrechte. Sie oder Anhänger anderer Glaubensrichtungen mögen vielleicht einwenden, es gäbe höhere Maßstäbe als die menschliche Würde – sei es ein Gott oder Götter, seien es das Mana, Nirvana, Außerirdische oder eine menschengemachte künstliche Intelligenz. Ich bin jedoch der Überzeugung, dass empirisch nachvollziehbare Erfahrung und dem argumentativen Diskurs entspringende intersubjektive Wahrheit die Grundlage für menschliches Miteinander sein sollte.
zu 4)
Die chinesische Regierung besitzt das faktische Gewaltmonopol in der Region, und im Kriterienkatalog Pekings haben soziale Rechte derzeit offensichtlich Vorrang. Dieser Kriterienkatalog ist derjenige der chinesischen Führung und nicht meiner (s. o., bzw. Anhang). Da die chinesische Regierung nicht aus freien Wahlen hervorgegangen ist und keine unabhängige Gerichtsbarkeit anerkennt, betrachte ich ihre Legitimität – jenseits der normativen Kraft des Faktischen – als höchst beschränkt. Gleichwohl anerkenne ich, dass das noch vor wenigen Jahren ärmste Land der Welt, in dem Hungerkatastrophen an der Tagesordnung waren, inzwischen in der Lage ist, 1,3 Milliarden Menschen zumindest zu ernähren und einem wachsenden Teil von ihnen bescheidenen Wohlstand zu ermöglichen. Dieser wirtschaftliche Aufbau aus bitterer Armut erstreckt sich auch auf die Region Tibet, wo die Chinesen Straßen, Schulen und Krankenhäuser gebaut und z. B. aus Llhasa ein florierendes Handels- und Tourismuszentrum gemacht haben. Die Lebenserwartung in Tibet hat sich seit den 50er Jahren verdoppelt, die Kindersterblichkeit ist massiv zurückgegangen. Zudem hat das Wirken moderater Kräfte in der KPC dazu geführt, dass in Tibet inzwischen mancherorts mehr buddhistische Tempel stehen als vor der Kulturrevolution. Die tibetische Sprache wird in Schulen und vor Gericht gesprochen (Mandarin muss im Vielsprachenstaat China übrigens von allen Kindern in der Schule neu gelernt werden – auch von solchen aus Shanghai). Angehörige der ethnischen Minderheiten sind im Nationalen Volkskongress überproportional vertreten. Im Bildungsbereich gibt es Förderprogramme zugunsten der tibetischen Jugendlichen, die z. B. bei der universitären Aufnahmeprüfung weniger Punkte benötigen als junge Han-Chinesen. Tibetische Familien sind von der Ein-Kind-Politik ausgenommen.
A propos Bevölkerungspolitik: Kann man bei 6 % Han und 93 % Tibetern in der Region tatsächlich behaupten, die Tibeter würden von den Han „überfremdet“? Auch wenn Lhasa 20 % und zeitweise durch Wanderarbeiter 50 % Han aufweisen soll, rechtfertigt dies meines Erachtens nicht den Vorwurf der Überfremdung. Wenn der Dalai Lama dies tut und gar von einem „kulturellen Völkermord“ spricht, relativiert er nicht nur tatsächliche Völkermorde in unerträglicher Weise, er ignoriert auch die Tatsachen in einer Weise, die einem angeblichen Demokraten nicht gut zu Gesicht steht. Dass die Gewährung politischer Grundrechte in Tibet und in ganz China ganz oben auf der Tagesordnung stehen muss, steht außer Frage. Die Etablierung einer Zivilgesellschaft, in der solche Rechte auch lebendig sein können, wird in Tibet durch das Fehlen einer eigenen demokratischen Tradition erschwert, durch die chinesische Repressionspolitik massiv blockiert. Ihr gegenüber sind die politischen Menschenrechte (und auch die soziale Emanzipation der Tibeter, die bisher weniger vom ökonomischen Aufschwung profitiert haben als die ansässigen Chinesen) mit Nachdruck einzuklagen. Eine Fetischisierung des tibetischen Widerstands, wie ihn die Tibet Lobby propagiert, führt jedoch dazu, Pogrome gegen Chinesen hinzunehmen oder gar zu rechtfertigen. Einige Tibeter hat die Frustration über ihre soziale Benachteiligung gegenüber chinesischen Wirtschaftsmigranten zu ethnischem Hass geführt und in einen mordenden Mob verwandelt. Dass die chinesische Regierung daraufhin Maßnahmen trifft, um die öffentliche Sicherheit wieder herzustellen, also Leib und Leben von Menschen zu schützen, die sonst Opfer von Brandstiftung und Totschlag würden, finde ich – wenngleich ich die Maßnahmen im Einzelnen für überzogen halte - prinzipiell richtig.
Mit freundlichen Grüßen
Norman Paech