Frage an Norman Paech von Manuel N. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Hallo Herr Paech,
das Anliegen, das ich an Sie habe betrifft den EU-Vertrag und seine Ratifizierung. In meinen Augen stellt dieser Vertrag eine Aushebelung des Grundgesetes dar. So wie ich ihn bis jetzt verstanden habe würde er bedeuten, dass die EU damit Befehlsgewallt über die Bundeswehr ausüben könnte und Deutschland noch stärker an Vorgaben der EU Gesetzgebung gebunden wäre. Diese schweren Einschnitte in das Grundgesetz machen in meinen Augen ein Volksabstimmung nötig (wie es sie bei der EU-Verfassung in einigen Ländern gegeben hat). Denn der EU-Vertrag ist ja eigentlich nix anderes als die EU-Verfassung, nur dass man hier und da einige Worte verändert hat. Es macht mich auch traurig, dass die großen Medien das Volk nicht genauer über die Auswirkungen des EU-Vertrages informieren.
Da ich nich mit dem EU-Vertrag konform gehe und ihn für Verfassungswiedrig halte, wollte ich fragen, ob Sie wissen, ob es für den EU-Vertrag geplant ist, eine Massenverfassungsklage ähnlich wie bei der Vorratsdatenspeicherung zu organisieren? Denn alleine den Gang vor das Verfassungsgericht zu wagen, scheue ich dann doch ein wenig. Und gibt es Bestrebungen, das Volk besser über die Auswikungen zu informieren?
Falls irgendwelche Annahmen in Bezug auf den EU-vertag von meiner Seite aus falsch waren, lasse ich mich gerne von Ihnen eines Besseren belehren.
Mit freundlichen Grüßen
Manuel Niquet
Sehr geehrter Herr Niquet,
ich danke Ihnen für Ihre Nachfrage!
Ihre Bedenken gegen den Vertrag von Lissabon (sog. Reformvertrag) kann ich nachvollziehen. Die LINKE. sagt „Nein“ zum Reformvertrag. Auch die Europäische Linkspartei, die 19 linke Parteien aus unterschiedlichen europäischen Staaten als Mitglieder und weitere 11 linke Parteien als Beobachter hat, lehnt diesen Vertrag ab. Entscheidend hierfür ist eine Reihe von Punkten: Mit dem Vertrag von Lissabon wird die neoliberale Ausrichtung Europas fortgesetzt und eine Sozialunion verhindert, zudem wird eine radikale Militarisierung der EU festgeschrieben. Dies wird sichtbar u.a. in der Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Aufrüstung. Dazu kommt, dass das seit Jahren kritisierte Demokratiedefizit der EU weiter verfestigt wird. So bleiben dem Europäischen Parlament weiterhin wichtige Parlamentsrechte, wie das Recht auf Gesetzesinitiative und die Wahl der Kommission verwehrt. Auch das mit dem Vertrag von Lissabon die Politik der Abschottung der EU-Außengrenzen noch „effektiver“ gestaltet werden kann, die zu einer „Festung EU“ beiträgt und den Tod von Hunderten von Menschen im Mittelmeer verursacht, ist für mich ein Grund der Ablehnung.
Gern möchte ich Sie auch auf Folgendes hinweisen: Der Vertrag von Lissabon bedeutet, wie Sie zu Recht anmerken, dass die Bundesrepublik an die Europäische Union Kompetenzen abgeben wird. Dies kann man aber nicht als Aushebelung des Grundgesetzes bezeichnen, da im Art. 23 Abs. 1 GG eine Möglichkeit zur Abgabe von nationalstaatlichen Kompetenzen an die Europäische Union ausdrücklich vorgesehen ist. Allerdings ist eine solche Abgabe von Kompetenzen nach Art. 23 Abs. 1 GG nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig bzw. mit dem Grundgesetz vereinbar: wenn dadurch das demokratische, rechtsstaatliche, soziale und föderative Prinzip des Grundgesetzes nicht verletzt, das Subsidiaritätsprinzip eingehalten wird und der Grundrechtsschutz der Bürgerinnen und Bürger in der EU dem Grundrechtsschutz in Deutschland entspricht. Ob diese Voraussetzungen des Grundgesetzes auch beim Vertrag von Lissabon erfüllt werden, wird von unserer Seite noch geprüft. Eine Massenverfassungsklage gegen den Reformvertrag ist bisher nicht geplant. Die LINKE. prüft, ob eine Verfassungsklage eingereicht werden kann, diese Prüfung ist aber noch nicht abgeschlossen.
Der Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bleibt weiter intergouvernemental organisiert, weshalb Ihre Feststellung, dass die EU über eine „Befehlsgewalt über die Bundeswehr“ verfügen würde, so nicht zutrifft. Vielmehr findet eine Intensivierung der Koordinierungskompetenzen der EU in diesem Bereich statt: z. B. werden die Mitgliedstaaten zu Aufrüstung per Vertrag verpflichtet, eine EU-Rüstungsagentur wird vertraglich geregelt und weltweite Militärinterventionen der EU sollen durch hochgerüstete Kampfgruppen (sog. EU-Battle-Groups) ermöglicht werden. Ein militärisches Kerneuropa und ein EU-Militärhaushalt werden für die EU kein Tabu mehr sein. Daher haben Sie Recht, dass mit dem neuen Vertrag eine radikale Militarisierung der EU auf den Weg gebracht wird. Zudem ist der Verweis im Vertrag von Lissabon, die Mitgliedsstaaten sollten ihre „nationalen Beschlussverfahren“ angesichts der neuen Interventionsstreitkräfte, überprüfen, als äußerst problematisch anzusehen. Es kann davon ausgegangen werden, dass mit Verweis auf einen ratifizierten Vertrag von Lissabon, CDU/CSU und SPD daran gehen werden, den Parlamentsvorbehalt bei Entsendung von deutschen Soldaten auszuhöhlen.
Ihren Hinweis, dass ein Referendum zum Reformvertrag durchzuführen ist, halte ich für berechtigt. Die LINKE. fordert, dass zu diesem Vertrag ein Referendum in allen Mitgliedstaaten abgehalten wird. Da sich die Regierungen aller Mitgliedstaaten auf eine parlamentarische Ratifizierung verständigt haben, wird ein Referendum allerdings leider nur in Irland im Juni 2008 stattfinden können, da die irische Verfassung dies zwingend vorschreibt. Wir wollen jedoch versuchen, eine Volksabstimmung mit politischen Mitteln durchzusetzen und daher würde ich Sie sehr gern bitten, uns dabei zu helfen: Sie können die Aktion unserer Partei zur Unterschriftensammlung für die Durchführung eines Referendums zum Reformvertrag http://die-linke.de/politik/international/europa_mitbestimmen_referendum_jetzt/
wie auch die Aktion von „Mehr Demokratie e. V.“ http://www.mehr-demokratie.de/europa.html unterstützen und in Ihrem Bekannten- und Freundeskreis für Unterstützung dieser Massenpetition werben.
Mit freundlichen Grüßen
Prof. Dr. Norman Paech