Frage an Norbert Brackmann von Lutz F. bezüglich Bundestag
Sehr geehrter Herr Brackmann,
die lange debattierte Parlamentsreform kommt nicht vom Fleck.
In der Nach-Corona-Zeit wird viel gespart werden müssen. Die Reduktion der Sitze im Bundestag ist so eine Möglichkeit, neben der dadurch verbesserten Arbeitsfähigkeit.
Welche Position nehmen Sie zur Reform in diesem Sinne ein? Ist Ihre Fraktion derselben Meinung wie Sie?
Mit besten Grüßen,
L. F.
Sehr geehrter Herr Fähser,
vielen Dank für Ihre Anfrage.
Grundsätzlich befürworte ich eine zeitnahe Änderung des Wahlrechts, mit der die Größe des Deutschen Bundestages auf die im Bundeswahlgesetz aus guten Gründen festgeschriebene Regelgröße begrenzt wird bzw. man sich dieser annähert. Ich hoffe auch, dass eine solche Reform noch in dieser Legislaturperiode möglich ist. Doch unser Wahlrechtsmodell ist in seinen Grundzügen und Rechnungsmethoden komplex sowie durch eine Vielzahl von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vorgezeichnet. Deshalb sind auch Änderungen genau abzuwägen. Im Folgenden möchte ich Ihnen nur einmal die bisherigen Überlegungen aufzeigen, die in dieser Legislaturperiode in der interfraktionellen Arbeitsgruppe „Wahlrechtsreform“ unter Leitung des Bundestagspräsidenten besprochen wurden.
Zunächst stimmen alle Fraktionen darin überein, dass man kein anderes Wahlrechtsmodell will, wie
* den Verzicht auf die Berücksichtigung der Direktmandate bei der Verteilung von Listenmandaten (so genanntes Grabenwahlrecht),
* der Abschaffung von Direktmandaten und Einführung eines ausschließlich proportionalen Listenwahlrechts (reines Verhältniswahlrecht) oder
* der Nichtzuteilung von gewonnenen Direktwahlkreisen bei der Mandatsverteilung, soweit die Zahl der errungenen Listenmandate überschritten wird.
Wir gehen also vom geltenden „personalisierten Verhältniswahlrecht“ aus, das durch drei wesentliche Elemente gekennzeichnet ist, die miteinander verbunden sind:
* Es gibt in Wahlkreisen durch die Erststimme mit relativer Mehrheit gewählte Abgeordnete (personales Element).
* Die Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag insgesamt sind im Wesentlichen proportional zu den von den Parteien erhaltenen Zweitstimmen (Verhältniswahl).
* Es erfolgt eine im Wesentlichen gleichgewichtige Verteilung der Mandate nach Einwohnerzahlen und erhaltenen Stimmen auf die Länder und die Landeslisten der Parteien (föderatives Element).
Obwohl das geltende Wahlrecht grundsätzlich von einer Mandatszahl von 598 Abgeordneten bei 299 Wahlkreisen ausgeht, besteht der Deutsche Bundestag auf der Grundlage des Wahlergebnisses vom September 2017 aus 709 Abgeordneten (299 direkt, 410 über Listen gewählte Abgeordnete). Dies ergibt sich daraus, dass nach diversen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts unser derzeit geltendes Wahlrecht einen vollumfänglichen Ausgleich von Mandaten nach dem Proportionalitätsprinzip vorsieht, um Verzerrungen der Erfolgswertgleichheit zu begegnen. Hierbei darf man aber nicht von der Grundannahme ausgehen, dass ausschließlich und stets zwingend Überhangmandate zu einem Ausgleich und damit zu einer unkontrollierten Vergrößerung des Deutschen Bundestages führen. Selbst wenn man beim Ergebnis der Bundestagswahl 2017 alle Direktmandate außer Acht ließe und ausschließlich die Listenmandate betrachtet, ergäbe sich dennoch eine Anzahl von 28 Ausgleichsmandaten. Bei der Bundestagswahl 2013 ging der Ausgleichsbedarf von einer Partei - der CSU - aus, die kein einziges Überhangmandat errungen hatte. Hingegen hat sogar die einzige Partei mit Überhangmandaten - die CDU - zusätzlich Ausgleichsmandate erhalten.
In den weiteren Diskussionen haben sich die Kolleginnen und Kollegen der FDP, von BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und DIE LINKE vor allem auf die Frage der Streichung von Wahlkreisen konzentriert. Dabei haben die vom Bundeswahlleiter erstellten Berechnungen aber gezeigt, dass sich durch eine Verringerung der Wahlkreise allein keine nennenswerte Reduzierung der Gesamtsitzzahl des Deutschen Bundestages erreichen lässt. Uns ist dagegen die Repräsentanz durch in Wahlkreisen gewählte Abgeordnete außerordentlich wichtig. Damit wird ein unmittelbarer Bezug zur örtlichen Wahlbevölkerung sichergestellt. Wahlkreisabgeordnete vertreten das ganze Volk, aber haben gleichzeitig eine sichtbare Rückkopplung an eine konkrete Wahlbevölkerung. Das ist ein wichtiges Zeichen demokratischer Repräsentanz. Bei einer Reduzierung wäre eine angemessene Repräsentanz durch einen Wahlkreisabgeordneten nicht mehr gewährleistet. Die Wahlkreise müssten flächendeckend so groß geschnitten werden, dass die Bindung zwischen Wählern und Wahlkreisabgeordneten auch auf der Ebene der Wahlkreise verloren ginge. Eine moderate Wahlkreisreduzierung hat demgegenüber nur einen minimalen Dämpfungseffekt. Angesichts der Relation zwischen Eingriff (in die Wahlkreise) und Effekt (Reduzierung des weiteren Wachstums) sehen wir auch in diesem Ansatz keine tragfähige Lösung.
Eine wirkliche Begrenzung einer weiteren Vergrößerung des Deutschen Bundestages lässt sich rein mathematisch durch eine Verringerung von Wahlkreisen nur dann erreichen, wenn diese Maßnahme mit einem Verzicht auf eine länderbezogene Mandatsermittlung und -verteilung zugunsten einer einheitlich bundesweiten Verteilung verbunden würde. Diese Regelung, in einem ersten Rechenschritt die Oberverteilung der Sitze auf die Länder durch Sitzkontingente nach Bevölkerungsanteil zu bestimmen (§ 6 Abs. 2 Satz 1 BWahlG), resultiert aus Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts; der Verzicht auf diese Regelung wäre daher starken verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. Gleichzeitig sehen wir als Union wichtig an, deutlich zu machen, dass in einer Bundestagswahl auch unsere föderale Struktur zum Ausdruck kommt. Deswegen halten wir auch am so genannten ersten Zuteilungsschritt fest
Die CDU/CSU-Fraktion hat dagegen mehrere Vorschläge unterbreitet, die allesamt von den Vertretern der anderen Fraktionen nicht ergebnissoffen diskutiert, sondern von vornherein abgelehnt wurden. Eine Möglichkeit wäre für uns gewesen, von der vom Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 25. Juli 2012 - 2 BvF 3/11, 2 BvR 2670/11, 2 BvE 9/11 – (BVerfGE 131, 316) aufgezeigten Möglichkeit Gebrauch zu machen und bei bis zu 15 Überhangmandaten auf einen Ausgleich zu verzichten. Ein Ausgleich würde danach erst ab dem 16. Überhangmandat für die Anzahl von 15 übersteigenden Überhangmandate erfolgen. Ein anderer Vorschlag würde einen Ausgleich nur bis zu insgesamt 630 Sitzen zulassen und die weiteren Überhangmandate nicht mehr ausgleichen. Alle vorgetragenen Modelle wurde von den Vertretern der FDP, DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und auch der SPD vehement kritisiert oder ohne ernsthafte weitere Beratung verworfen.
In dieser Situation hat der Bundestagspräsident den Versuch unternommen, durch einen vermittelnden Vorschlag, der von beiden Seiten vorgeschlagene Elemente enthält, die Grundlage für einen möglichen Konsens zu schaffen. Sein Vorschlag sieht die Kombination einer moderaten Reduzierung der Zahl der Wahlkreise mit einer moderaten Begrenzung der zur Herstellung proportionaler Mehrheitsverhältnisse eingeführten Ausgleichsmechanismen vor: Die Ausschöpfung des vom Bundesverfassungsgericht für möglich gehaltenen Nichtausgleichs von bis zu 15 Überhangmandaten und Verringerung der Zahl der Wahlkreise auf 270 bei Festhalten an der Ausgangssitzzahl 598. Unter Zugrundelegung des Ergebnisses der Bundestagswahl von 2017 würde dies zu insgesamt 641 Sitzen führen. Diese Verringerung wäre aber mit der Streichung von 29 Direktmandaten verbunden gewesen. Ohne die Streichung eines einzigen Direktmandates wäre die Begrenzung des Ausgleichsmechanismus bei 630 Sitzen zu einem nahezu identischen Ergebnis von 642 Sitzen gekommen. Der Nachteil einer Wahlkreisreduzierung und der Größeneffekt stünden auch bei diesem Modell in keinem sinnvollen Verhältnis zueinander. Daraus ergibt sich schon, dass der jetzt von den anderen Fraktionen erhobene Vorwurf gegenüber dem Bundestagspräsidenten, er habe einseitig zugunsten der Union Partei ergriffen, jeglicher Grundlage entbehrt.
FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der Partei DIE LINKE und auch die SPD stören sich vor allem daran, dass der den föderalen Proporz wahrende Zuteilungsschritt der ersten Stufe erhalten bleiben soll. Der nunmehr von ihnen unterstützte Vorschlag, der eine Reduzierung auf 250 Wahlkreise, die Abschaffung der Oberverteilung auf die Länder im ersten Zuteilungsschritt bei einer Erhöhung der Regelgröße des Deutschen Bundestages vorsieht, ist für die CDU/CSU Fraktion offensichtlich nicht annehmbar. Mit der Erhöhung der Regelgröße des Deutschen Bundestages auf 630 Sitze bei gleichzeitiger Verringerung der Direktmandate wird unabhängig vom Anfallen von Überhangmandaten und Ausgleichsmechanismen aus eigenen machtpolitischen Erwägungen ein Ausbau des bereits jetzt existierenden Übergewichts von Listenmandaten, von dem diese Parteien überproportional profitieren, festgeschrieben. Insofern ist es unredlich der Union Blockadehaltung vorzuwerfen. Die CDU/CSU-Fraktion steht einer grundsätzlichen Reform und auch Reformvorschlägen aus der Opposition offen gegenüber.
Mit freundlichen Grüßen
Norbert Brackmann