Frage an Norbert Brackmann von Anja K. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Hallo Herr Brackmann,
dieses Jahr war gefüllt mit den verschiedensten Informationen zu Missbrauchsdelikten an Kindern und Jugendlichen.
Wir benötigen dringend einen Wandel im Umgang mit diesem traurigen Thema, vor allem im Umgang mit den Opfern in unserer Gesellschaft. Dieser kann nur angestoßen werden durch Aufklärung und einer Reform unserer Gesetzte in diesem Bereich.
1) Stimmen Sie zu, dass Reformen erforderlich sind?
2) Wenn ja, in welcher Form wollen Sie Reformen auf den Weg bringen?
Ich habe mich in diesem Zusammenhang gefragt, welche Möglichkeiten habe ich, neben dem Kreuz auf meinem Wahlzettel, Politik auf Missstände in der Gesetzgebung hinzuweisen. Unter change.org finden Sie meine Petition "Keine Deals bei Missbrauchsdelikten an Kindern und Jugendlichen". Aus meiner Sicht gehört unser Strafrecht, bezogen auf Sexualdelikte, komplett reformiert. Meine Petition könnte ein Anstoß dazu sein.
Ihre Meinung dazu interessiert mich sehr. Ich würde mich freuen, wenn mein Anliegen Ihre Unterstützung findet. Unter den nachfolgenden Links finden Sie alle wichtigen Informationen. Die Inhalte habe ich in den letzten zwei Monaten recherchiert und mit Pädagogen und Anwälten besprochen. Bei Interesse stelle ich Ihnen gern die Ergebnisse zur Umfrage zur Verfügung.
Zur Petition: https://www.change.org/p/alle-deutschen-politiker-keine-deals-bei-missbrauchsdelikten-an-kindern-und-jugendlichen
Zur ergänzenden anonymen Umfrage: http://www.q-set.de/q-set.php?sCode=YWAZPGPBWQHH
Zur Homepage: http://www.schuldfrage.com
Ich freue mich auf Ihre Rückmeldung.
Beste Grüße
Anja Kahl
Sehr geehrte Frau Kahl,
vielen Dank für Ihre E-Mail und dem Hinweis auf Ihre Petition „Keine Deals bei Missbrauchsdelikten an Kindern und Jugendlichen“. Auch die Links mit den weiter führenden Informationen habe ich mit großem Interesse gelesen.
Die Bekämpfung des sexuellen Kindesmissbrauchs ist ein wichtiges und mit Entschlossenheit anzugehendes Thema. Der Opferschutz muss meines Erachtens hier stets im Vordergrund stehen.
Die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gemäß §§ 174 ff. StGB werden momentan von einer Kommission überarbeitet und sollen bis zum Frühjahr nächsten Jahres reformiert werden. Auch für eine Aktualisierung des Strafprozessrechts wurde eine Kommission eingerichtet, die ihre Vorschläge im Herbst vorstellen wird. Inwieweit hierbei der „Deal“ reformiert werden wird, vermag ich Ihnen leider nicht mitzuteilen.
Trotz allem stehe ich der Forderung nach einer grundsätzlichen Verweigerung von Verfahrensabsprachen bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung kritisch gegenüber. Bei einer Verständigung gemäß § 257c Strafprozessordnung (StPO) kommt es zwischen dem Gericht, dem Angeklagten und der Staatsanwaltschaft zu einer Absprache über das weitere Prozedere im Strafverfahren. Inhalt dieser Verständigung ist in der Regel, dass für den Fall eines Geständnisses in Aussicht gestellt wird, eine bestimmte Strafe nach oben (bzw. auch nach unten) nicht zu überschreiten, § 257c Absatz 2 und Absatz 3 StPO. Die Verständigung hat bestimmte Mindestbedingungen, um einem rechtsstaatlichen Verfahren nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) zu genügen. So darf unter anderem keine Absprache über den Urteilsspruch getroffen werden, das Geständnis muss auf seine Glaubwürdigkeit überprüft werden und es sind alle Verfahrensbeteiligten einzubeziehen. Zudem darf das Gericht nicht vorschnell auf eine Urteilsabsprache abweichen, ohne zuvor pflichtgemäß die Anklage tatsächlich anhand der Akten und insbesondere auch rechtlich geprüft zu haben. Es bestehen demnach strenge Voraussetzungen für eine Verfahrensabsprache. Zwingendes Recht darf im Rahmen der Verständigung nicht übergangen werden. Den Verfahrensbeteiligten stehen nach Abschluss des Prozesses Rechtsbehelfe und Rechtsmittel zu.
Eine Verfahrensabsprache kann somit unter Umständen zu einer Verkürzung des Verfahrens führen, was dem Opfer mitunter eine Aussage in der Hauptverhandlung und eine Erinnerung an das Erlebte erspart.
Die §§ 153, 153 a StPO können hingegen nur bei Vergehen zur Anwendung kommen, also nur bei Straftaten, die mit Geldstrafe oder mit maximal einem Jahr Freiheitsstrafe bewährt sind. Eine Verfahrenseinstellung ist somit von vornherein nur bei Vergehen und nicht bei Verbrechen – und damit bei geringerem Unrecht – denkbar.
Die §§ 153, 153a StPO stellen für das Gericht ein wichtiges Instrument des Strafrechts für eine abgestufte, dem Einzelfall angemessene Reaktion dar. Die Schadenswiedergutmachung und die Durchführung eines Täter-Opfer-Ausgleichs nach den § 153 a Abs. 1 Nr. 1 bzw. Nr. 5 StPO kann in einigen Missbrauchsfällen geeignet sein, das öffentliche Interesse an einer Strafverfolgung zu beseitigen.
Das Absehen von Strafe gemäß § 153 StPO bzw. die Einstellung des Verfahrens gemäß § 153a StPO zwischen den Verfahrensbeteiligten könnten unter Umständen auch im Interesse des Opfers sein, welchem die Durchführung einer Hauptverhandlung damit erspart bliebe. Die Vernehmung des Opfers als Zeugen bedeutet für dieses mitunter eine schwere Belastung.
Es erscheint mir daher wenig angemessen, gerade bei Fällen nahe der Bagatellschwelle, von vornherein auf die Möglichkeiten der einvernehmlichen Beendigung eines Strafverfahrens zu verzichten. Zumal Voraussetzung der §§ 153, 153a StPO immer ist, dass die Schuld gering ist.
So sehr ich eine konsequente Bestrafung der Täter sexuellen Kindesmissbrauchs befürworte, muss diese in einem Rechtsstaat auch immer angemessen sein. Die Täter dürfen vor Gericht grundsätzlich nicht anders behandelt werden, als beispielsweise ein Dieb oder Räuber, auch wenn dies mitunter nicht immer verständlich und leicht zu ertragen ist.
Schließlich kann ich Ihnen mitteilen, dass die Politik bereits tätig geworden ist. Das Gesetz zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch wurde am 26. Januar 2015 verkündet und ist damit in Kraft getreten.
Unter anderem wurden mit diesem Gesetz die kommerzielle Herstellung und das Anbieten von Nacktbildern von Kindern unter Strafe gestellt.
Des Weiteren wurden die Verjährungsregeln für Sexualstraftaten erhöht. Die strafrechtliche Verjährung bei Sexualdelikten, insbesondere beim sexuellen Kindesmissbrauch, wird erst mit Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers beginnen. Damit können alle schweren Sexualdelikte zukünftig nicht mehr vor der Vollendung des 50. Lebensjahres des Opfers verjähren.
Momentan befindet sich das 3. Opferrechtsreformgesetz im parlamentarischen Verfahren. Mit diesem Gesetz sollen die Rechte der Opfer des sexuellen Missbrauchs gestärkt werden, unter anderem indem die Verletzten als selbstständige Verfahrensbeteiligte anerkannt werden. Die europäische Richtlinie ist bis zum 16. November 2015 umzusetzen.
Schließlich werden weitere Mittel für das Präventions-Netzwerk „Kein-Täter-werden“ zur Verfügung gestellt. Für 2015 ist eine Erhöhung auf 560.000 Euro und für 2016 auf 585.000 Euro vorgesehen. Dies befürworte ich besonders, denn meines Erachtens ist Prävention der beste Opferschutz.
Mit freundlichen Grüßen,
Norbert Brackmann