Frage an Nicolette Kressl von Thomas S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Im Sternartikel „Das entmündigte Volk“ vom 31.07. wird beschrieben: „Nur noch fünf Prozent der Deutschen glauben, dass sie Politik durch Wahlen maßgeblich mitbestimmen können.“ 1) Was könnte man tun, um die Menschen wieder mehr für die Politik zu interessieren? Wären direkte Volksentscheide für sie eine Ergänzung zu unserem deutschen Demokratieprinzip?
Am 8. September 2009 soll im Bundestag ein Gesetz verabschiedet werden, das den Lissabonner Vertrag rechtsverbindlich macht. Der Vertrag hat Folgen, welche die im Grundgesetz verankerten Grundwerte Demokratie und Freiheit nach Meinung vieler Experten einschränken oder gefährden und überträgt wichtige Kompetenzen auf die EU-Ebene.
So soll zum Beispiel über militärische Einsätze in Zukunft auf EU-Ebene entschieden werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil bestätigt, dass über einen Militäreinsatz im Bundestag entschieden werden muss. Allerdings wird mit der Ausnahmeregelung bei „Gefahr im Verzug“ dennoch eine Möglichkeit geschaffen, ohne Legitimierung des Bundestags die Bundeswehr einzusetzen.
2) Welche Stellung beziehen sie hierzu? Wie stehen Sie zu einem Einsatz der Bundeswehr im Inland?
Desweiteren wird oft vom Herkunftslandprinzip gesprochen, welches europaweit zumindest zunächst im Dienstleistungssektor in allen Staaten der EU eine Vermischung unterschiedlicher Rechtsformen und Bezahlung nach Herkunftsland zulassen könnte.
3) Haben Sie diesbezüglich Bedenken ob in Deutschland eine Schwächung der Gewerkschaften erfolgen würde und ob ökologische sowie Lebensmittelstandards wie sie in Deutschland bestehen weiterhin eingehalten werden?
Die Diskussion in den Medien über solch gravierende Themen zeigt, dass der Lissabonner Vertrag weitreichende Konsequenzen für die Bürger der EU hat.
4) Sehen sie weitere kritische Punkte im Vertrag und denken sie, dass dieser Vertrag positive Veränderungen in Deutschland hervorrufen könnte?
Danke für Ihre Antworten! Viele Grüße,
Thomas Strobel & Michael Graf
Sehr geehrter Herr Strobel, sehr geehrter Herr Graf,
vielen Dank für Ihre Anfrage über das Internetportal www.abgeordnetenwatch.de vom 23. August 2009.
Sicher ist: Eine Demokratie braucht politisch interessierte Bürgerinnen und Bürger. Dazu sind eine Intensivierung der politischen Bildung und die Verbesserung der öffentlichen Meinungsbildungs- und Beteiligungsprozesse erforderlich. Eine Demokratie lebt aber auch von dem gesellschaftlichen Engagement eines jeden Einzelnen. Die Verbesserung der rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen, um freiwilliges Engagement zu ermöglichen und zu fördern, ist daher auch weiterhin unsere ständige politische Aufgabe. Mit der Einführung von Volksbegehren und -entscheiden auf Bundesebene, wie ebenfalls in unserem Regierungsprogramm gefordert, wollen wir den Bürgerinnen und Bürgern mehr Möglichkeiten für direkte Demokratie geben.
Lassen Sie mich auf einige Punkte Ihrer Frage eingehen:
Bei Einsätzen im Inland spreche ich mich zusammen mit der SPD-Bundestagsfraktion gegen die, über heutige Regelungen hinausgehende, Beteiligung der Bundeswehr aus. Diese Linie bekräftigt auch das Regierungsprogramm, indem es heißt: „Klare Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Sicherheit. Wir bleiben bei der klaren Trennung von Polizei und Geheimdiensten im Sinne des Trennungsgebotes.“
Die Europapolitik hat in der SPD-Bundestagsfraktion einen besonderen Stellenwert. Wichtige Änderungen der EU-Dienstleistungsrichtlinie, die einer Schwächung der Gewerkschaften entgegenwirken, haben wir bereits erreicht: Das ursprünglich von der EU-Kommission geplante Herkunftslandprinzip, wonach bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen die gesetzlichen Regelungen des Herkunftslandes Geltung hätten, ist nicht mehr in der Richtlinie enthalten. Mit dem verankerten Prinzip des freien Marktzugangs für Dienstleistungen wurde ein Rahmen geschaffen, der das notwendige Gleichgewicht zwischen einer im gemeinsamen Binnenmarkt notwenigen Marktöffnung und der Sicherstellung angemessener Lohn- und Sozialstandards ermöglicht.
Beim Verbraucherschutz ist unser Leitbild der mündige Verbraucher, der selbst bestimmt, welches Produkt er will und dabei gute Möglichkeiten hat, sich über die Beschaffenheit, Herkunft und Produktionsbedingungen zu informieren. Daher fordern wir klare und deutliche Packungsbeschreibungen. Entsprechend den in Deutschland vorhandenen Regeln, brauchen wir eine EU-einheitliche Kennzeichnung von Produkten „ohne Gentechnik“. Allerdings muss deutlich gesagt werden: Bereits heute wird ein großer Teil des Lebensmittelrechts nicht auf nationaler, sondern auf europäischer Ebene gestaltet. Deshalb kann ich den Zusammenhang mit dem Vertrag von Lissabon nur in Teilen sehen.
Deutschland erhält mit dem Vertrag von Lissabon erstmals direkte und unmittelbare Mitwirkungsrechte am Gesetzgebungsverfahren der EU in Form des so genannten Frühwarnmechanismus und eines eigenen Klagerechtes vor dem Europäischen Gerichtshof. Danach können sowohl der Bundestag als auch der Bundesrat die Gesetzgebungsentwürfe der Europäischen Union innerhalb von acht Wochen auf die Einhaltung des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips prüfen und ggf. eine Stellungsnahme abgeben.
Auch wenn durch den Vertrag von Lissabon noch nicht alle langfristig wünschenswerten Fortschritte für mehr Demokratie in Europa verwirklicht werden, ist der Vertrag für mich ein großer Schritt in die richtige Richtung, der die demokratische Legitimität europäischer Politik weiter verbessert. Das demokratische Europa der Zukunft braucht eine parlamentarisch verantwortliche Regierung auf der Basis einer europäischen Verfassung.
Für weitere Rückfragen stehen Ihnen meine Mitarbeiterinnen im Berliner Büro gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Ihre Mittelbadische SPD-Bundestagsabgeordnete
Nicolette Kressl