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Nezahat Baradari
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Frage von Martina P. •

Frage an Nezahat Baradari von Martina P. bezüglich Humanitäre Hilfe

Sehr geehrte Frau Baradari, warum haben Sie gegen den Antrag zur Aufnahme von Flüchtlingen gestimmt?

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Antwort von
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Sehr geehrte Frau Preuß-Beckmann,
herzlichen Dank für Ihre Anfrage, auf welche ich Ihnen gerne antworten möchte.

Die Zustände in den Aufnahmeeinrichtungen auf den griechischen Inseln sind unbestritten katastrophal und untragbar. Daher bin ich sehr froh, dass sich die Bundesrepublik Deutschland aufgrund der Beschlüsse des Koalitionsausschusses vom 08. März 2020 bereit erklärt hat, Kinder von den griechischen Inseln aufzunehmen. Es handelt sich um Kinder, die aufgrund einer schweren Erkrankung dringend behandelt werden müssen, unbegleitet und jünger als 14 Jahre alt sind. Die meisten davon sind Mädchen.

Die Europäische Kommission sichert finanzielle Unterstützung in Höhe von 700 Mio. € zu, wovon 350 Mio. € sofort verfügbar sind und der Rest bei Bedarf. Darüber hinaus wird die Europäische Kommission zukünftig die Umsetzung von Unterstützungsangeboten u. a. die des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, koordinieren.

Ebenso gibt es auch von Deutschland weitere zahlreiche Hilfeleistungen für die Menschen vor Ort. So wurde das THW am 02.03.2020 beauftragt, im Zeitraum 03.-06.03.2020 in Athen und auf der griechischen Ägäis-Insel Samos den tatsächlichen technisch-logistischen Hilfeleistungsbedarf im und um den dortigen Hot Spot auf Samos zu erkunden. Jedoch sind die Arbeitsabläufe vor Ort schwierig und so braucht es beispielsweise für eine identifizierte und vom griechischen Migrationsministerium erbetene Unterstützung zur möglichen Rehabilitierung eines Brunnens weitere langwierige Abstimmungsprozesse zwischen der Regierung sowie den lokalen Behörden.

Am 06. März 2020 hat Deutschland im Zuge des Union Civil Protection Mechanism 150 Winterzelte inkl. Beleuchtungssätze und Warmlufterzeuger sowie 1500 Feldbetten der griechischen Regierung als Hilfsleistung angeboten. Griechenland hat das Angebot noch am gleichen Tag angenommen.

Seit April 2016 wurden im Rahmen des EU-Resettlementprogramms in Kooperation mit UNHCR insgesamt mehr als 26.000 besonders schutzbedürftige Flüchtlinge direkt aus der Türkei in die EU aufgenommen. Mit 9.600 aufgenommenen Personen leistet Deutschland hier EU-weit den größten Anteil. Ebenfalls hat Deutschland seit Juli 2018 in 33 Seenotrettungsfällen Zusagen zur Übernahme der Zuständigkeit für die Durchführung der Asylverfahren von bis zu 1046 Personen gemacht. Zwischen Januar 2019 und Februar 2020 erfolgten darüber hinaus im Rahmen der Übernahmen gem. Dublin-Verfahren insgesamt 7.082 Überstellungen nach Deutschland (davon 813 aus Griechenland).

Neben diesen schon erbrachten und geplanten Hilfsleistungen aus Deutschland für die Menschen in Griechenland, gibt es aber auch noch eine politische Begründung für meine Ablehnung des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen:

In diesem Zusammenhang darf ich sie auf meine persönliche Erklärung zum Abstimmungsverhalten nach § 31, Abs. 1 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages auf meiner Webseite aufmerksam machen.
Sowohl meine Ablehnung des Antrags sowie die meiner Fraktion, war nicht inhaltlich begründet. Egal wen Sie in der SPD-Bundestagsfraktion fragen, bei allen Kolleginnen und Kollegen herrscht Entsetzen bezüglich der Situation an der türkisch-griechischen Grenze. Dies trifft auch auf die uneinheitliche Reaktion der Europäischen Union zu, die es bei 500 Millionen EU-Bürger*innen nicht schafft, ein paar Tausend Geflüchtete "gerecht zu verteilen“. Eine willkürlich Anzahl, kann es dabei nicht geben: So wären z. B. 5.000 Personen für die Person 5001 katastrophal.

Selbst wenn die SPD-Bundestagsfraktion diesem Antrag zugestimmt hätte, wäre der Antrag abgelehnt worden – die Mehrheit in unserem Parlament liegt leider rechts der Mitte. Von denen in unserem Parlament vertretenen sogenannten christlichen Parteien ohne Nächstenliebe ist hierbei keine Einsicht zu erwarten. Es wäre folglich keinem einzigen Kind an der griechischen Grenze geholfen und Deutschland hätte stattdessen zusätzlich zu den derzeitigen massiven politischen Problemen eine handfeste Regierungskrise bekommen.

Mehrere SPD-Oberbürgermeister und SPD-geführte Kommunen haben sich bereit erklärt, geflüchtete Menschen von den griechischen Inseln aufzunehmen. Selbst mit Familiennachzug ist dies eine Anzahl von Geflüchteten, die jede Kommune finanziell und sozial stemmen kann.

Deutschland hat im Jahr 2015 Humanität bewiesen und insbesondere die Zivilbevölkerung hat sich, so gut es ging, hervorragend um die Menschen gekümmert.
Angesichts der vielen Menschen, die aus ihren Heimatländern vor Gewalt, Verfolgung und Krieg fliehen müssen, kann es auf lange Sicht nur eine gemeinsame europäische Lösung geben.

Der türkische Botschafter in Deutschland war in der vergangenen Woche zu Gast im Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union und musste unangenehme Fragen über sich ergehen lassen. Auf meine Initiative hin, soll auch der ungarische Botschafter in den Ausschuss eingeladen und befragt werden. Denn Ungarn nimmt so gut wie keine Geflüchteten auf und wenn dann nur Christen. Und dies obwohl Ungarn und Polen die größten Nettoempfänger in der Europäischen Union sind. Jedoch zeigen sie sich absolut nicht solidarisch.

Anstatt also dem Antrag der Grünen zuzustimmen und effektiv gar nichts zu verbessern, haben wir die Möglichkeiten genutzt, die uns als regierungstragende Fraktion zur Verfügung stehen.

Durch Druckausübung auf den Innenminister Herr Seehofer haben wir im Ministerrat der Europäischen Union Hilfen für Griechenland und für die Geflüchteten auf den griechischen Inseln vereinbaren können, wie ich oben bereits ausführte. Es ist uns bewusst, dass dies bei Weitem nicht ausreicht, um der katastrophalen Situation vor Ort Herr zu werden. Es ist aber leider das Maximum dessen, was wir angesichts der derzeitigen Mehrheiten erreichen konnten.

Übrigens: die Grünen, die sich mit ihrem Antrag als einzig wahre Verfechter der Humanität inszenieren, stimmen – sobald sie in Verantwortung sind – ebenfalls nicht gegen ihren Koalitionspartner. Zuletzt zu sehen war dies in Baden-Württemberg, als die Koalition aus Grünen und CDU dem Antrag der SPD-Fraktion, Geflüchtete, die hier Arbeit gefunden haben, nicht mehr abzuschieben, abgelehnt haben.

Sehen Sie sich Österreich an, wo die Grünen mit Rechtsnationalisten kooperieren und deren Flüchtlingspolitik mittragen. Wenn ich es scharf formulieren wollte, könnte ich also sagen, dass die Grünen das entsetzliche Leid der Menschen in Griechenland zur eigenen Profilierung nutzen, indem sie diesen Antrag einbringen, wohlwissend, dass er selbst bei sozialdemokratischer Zustimmung von der Mehrheit des Parlaments abgelehnt wird. Allerdings kennen alle den Koalitionsvertrag und wissen somit, dass in solchen Fällen nur gemeinsam abgestimmt wird.

Deshalb wäre es mir viel lieber, wenn alle demokratischen Parteien an einem Strang zögen und auf Verwirrspiele verzichten würden. Andererseits sind wir natürlich im politischen Wettbewerb. Gesetze werden vorab auch mit der Opposition im Parlament „hinter den Kulissen“ kommuniziert und „abgestimmt“ oder auch nicht.

Ich persönlich hätte mir gewünscht, dass Bündnis 90/Die Grünen dies auch in diesem Fall getan hätten. Statt den parlamentarischen Usus zu pflegen, um mehr für die Menschen auf den griechischen Inseln gemeinsam mit der SPD zu erreichen, haben sie populistisch gehandelt. Dies bedauere ich sehr. Hier geht es nicht um Wählergunst, sondern um politische Verantwortung.

Sie sehen, der Hauptgrund, warum die deutsche Asylpolitik nicht so gestaltet ist, wie Sie und ich (und die Mehrheit der Grünen, auch sie haben einen Palmer oder einen Kretschmann) uns das wünschen, liegt an einer fehlenden humanitären linken Mehrheit. Bei Wahlen bekommt die SPD 20 Prozent, in der Koalition wird dann aber erwartet, dass sie zu 100 Prozent sozialdemokratische Politik durchsetzen kann. Vielleicht kann mir jemand erklären, wie das gehen soll.

Es gebietet das Verantwortungsbewusstsein aller demokratischen Parteien, die Problematik der Flüchtlinge nicht für ihre politische Werbung zu instrumentalisieren, sondern konkrete politische Hilfeleistung zu bewirken und dementsprechend zu handeln.

Mit freundlichen Grüßen
Nezahat Baradari

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