Frage an Nadine Schön von Michael B. bezüglich Gesundheit
Sehr geehrte Frau Schön,
Ist eine flächendeckende Beschränkung der Freiheitsrechte von 83 Millionen Menschen verhältnismäßig? Angesichts der aktuellen Erkenntnisse und Möglichkeiten 1. zum qualitativen und selektiven Schutz der Risikogruppen 2. der Impfquote innerhalb der Risikogruppen 3. der Fähigkeit zum Selbstschutz der Risikogruppen durch FFP2-Masken, Abstand, Hygiene, eigenverantwortliche Vermeidung von Großveranstaltungen mit engem Körper- und Atemkontakt 4. zur Gefährlichkeit des Virus in der Gesamtbevölkerung?
Sowie angesichts der durch die Maßnahmen verursachten Schäden.. 1. an der Gesamtvolkswirtschaft 2. an persönlichen Existenzgrundlagen der durch Betriebsschließungen und Betätigungsverbote betroffenen Unternehmen/Selbstständigen 3. am Arbeitsmarkt und an den Sozialsystemen 4. an der innerdeutschen, europäischen und internationalen Armutssituation, insbesondere im Blick auf die prekären Gruppen ungelernter/gering qualifizierter Personen im Inland und in den Entwicklungs-/Schwellenländern 5. an den Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten der nachwachsenden Generationen 6. an den Lebensleistungsbilanzen und damit Rentenerwartungen von Selbständigen, Freiberuflern und insbesondere auch Eltern 7. an der Lebensqualität von Hochbetagten und Menschen mit Behinderungen in Pflege- und Wohneinrichtungen.
Kommen Bund und Länder ihren - durch die verfügten Maßnahmen ausgelösten - Entschädigungs- und Ausgleichspflichten in ausreichendem Maße nach? 1. Gegenüber direkt betroffenen Selbständigen und Unternehmen 2. Gegenüber in zweiter Reihe (als Zulieferer und Dienstleister) betroffenen Selbständigen und Unternehmen 3. Gegenüber Familien, Schülern, Studierenden In der Summe kurz: IST DAS VORGEHEN DER BUNDESREGIERUNG und DER LÄNDER VERHÄLTNISMÄSSIG UND VERFASSUNGSGEMÄSS.
Sehr geehrter Herr Britz,
vielen Dank für Ihre Anfrage zum 4. Bevölkerungsschutzgesetz („Infektionsschutzgesetz“), das der Bundestag in der vergangenen Woche verabschiedet hat.
Deutschland steckt mitten in der dritten Welle der Corona-Pandemie. Die mittlerweile in Deutschland dominante Virusvariante B.1.1.7 ist nach bisherigen Erkenntnissen deutlich infektiöser und verursacht offenbar schwerwiegendere Krankheitsverläufe. Die Zahl der Neuinfektionen steigt stetig. Den Kliniken, insbesondere den Intensivstationen, droht Überlastung. Deshalb hat die Koalition eine weitere Änderung des Infektionsschutzgesetzes auf den Weg gebracht, die ab einer 100er-Inzidenz in Landkreisen und kreisfreien Städten bundeseinheitliche Maßnahmen vorsieht.
Wie Sie sich sicher vorstellen können, haben mich sehr viele Zuschriften zu diesem Thema erreicht. Auf die häufigsten Fragen rund um das Gesetz möchte ich im Folgenden eingehen. Vorwegschicken möchte ich aber, dass wir uns die Beratungen, auch wenn der Zeitplan ambitioniert war, nicht leicht gemacht haben und den ursprünglichen Entwurf, den uns die Bundesregierung geliefert hat, an vielen entscheidenden Stellen geändert haben. So haben wir die Maßnahmen z.B. bis zum 30. Juni befristet und festgelegt, dass die Bundesregierung Rechtsverordnungen nur mit aktiver Zustimmung des Bundestages verabschieden kann. Damit stellen wir sicher, dass ohne Zustimmung des Bundestages, keine Maßnahmen alleine von der Bundesregierung getroffenen werden können. Auf diese Weise stärken wir die Position des Bundestages gegenüber der Bundesregierung im Hinblick auf weitere Maßnahmen, die möglicherweise noch getroffen werden müssen. Zugleich treten wir damit der Befürchtung entgegen, dass mit diesem Gesetz alle Macht vom Parlament auf die Bundesregierung „abgetreten“ wird, wie es von einigen Menschen befürchtet wird. Das Gegenteil ist der Fall.
Die nun vorgesehene bundesweit einheitliche Regelung der Maßnahmen gibt den Menschen Klarheit darüber, was in den Landkreisen oder kreisfreien Städten gilt, deren Sieben-Tages-Inzidenz drei Tage lang über 100 liegt. Die Sieben-Tage-Inzidenz ist nach wie vor der aussagekräftigste Wert über den
Stand der Pandemie.
Die Erkenntnisse der vergangenen 13 Monate zeigen: Dieser Wert erlaubt verlässliche Prognosen über die Pandemieentwicklung. Andere Werte wie der R-Wert – also die Ansteckungsrate – oder die Auslastung der Intensivstationen hängen mittelbar mit der Inzidenz zusammen. So folgt
beispielsweise die Steigerung der Zahl der Intensivpatienten oder die Zahl der Todesfälle mit einer mehrwöchigen Verzögerung dem Anstieg der Neuinfektionen. Die Sieben-Tage-Inzidenz ist zielgenau, weil sie tagesaktuelle Schwankungen, die auch zufallsbedingt sein können, ausgleicht. Sie ist außerdem für die Bürgerinnen und Bürger klar und nachvollziehbar und kann tagesaktuell und landkreisgenau auf der Homepage des Robert-Koch-Instituts nachgesehen werden. Insofern sorgt sie auch für Rechtssicherheit.
Die Inzidenz von 100 als Richtwert ist auch ein wichtiger Faktor im Hinblick auf das Saarland-Modell. Denn auch hier werden viele Lockerungen nur bis zu diesem Inzidenzwert auf Landesebene aufrechterhalten. Dementsprechend ist das neue Infektionsschutzgesetz auch nicht automatisch das Ende des Saarland-Modells.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Umgang mit den Schulen und Kitas. Diese sollen erst bei einer Inzidenz über 165 geschlossen werden. Dieser Wert war in den Beratungen besonders umstritten. Die einen fanden 165 viel zu hoch, die anderen viel zu niedrig.
Klar ist: Über die Schulen und Kitas findet derzeit trotz der Hygiene- und Vorsorgemaßnahmen ein ganz erheblicher Teil des Infektionsgeschehens in Deutschland statt – mit entsprechenden
Gefahren für die Kinder selbst, Eltern und Geschwister sowie deren Kontaktpersonen.
Auf der anderen Seite sehen wir, wie wichtig Schule und Kita für die soziale Entwicklung und das Lernen sind. Deshalb hat man einen relativ hohen Wert gewählt und will das Infektionsgeschehen an Schulen unterhalb dieser Schwelle über regelmäßiges Testen kontrollierbar halten. Vorgesehen ist, dass die Schüler zweimal pro Woche getestet werden. Berücksichtigt wird mit der Wahl des höheren Schwellenwertes auch, welche enormen Belastungen auf berufstätige Eltern zukommen, wenn sie über lange Zeit ihre Kinder selbst betreuen oder eine Betreuung organisieren müssen. Darüber hinaus wird der Tatsache Rechnung getragen, dass Kinder und Jugendliche weniger gut auf menschliche Kontakte verzichten können als Erwachsene und dass sie in der Schule auch sozialen Umgang erlernen.
Gleichwohl bedeuten die Schulschließungen eine erhebliche Härte für Kinder und Eltern, ganz besonders für diejenigen, die in sozial schwierigen Verhältnissen leben. Um diese Härten zumindest ein wenig abzufedern, sieht die Regelung eine Ausnahme für Kindersport im Freien vor, um den Kindern hier einen körperlichen und psychischen Ausgleich schaffen zu können. Hierfür plant die Bundesregierung bereits ein zusätzliches Maßnahmenpaket, mit dem sowohl verlorengegangener Unterricht aufgeholt als auch Ferienfreizeiten zum Ausgleich angeboten und gefördert werden sollen.
Alles in allem bin ich davon überzeugt, dass das Vorgehen der Bundesregierung und der Länder mit sehr viel Augenmaß für mögliche negative Auswirkungen auf verschiedene Bevölkerungsgruppen, erfolgt. Meiner Meinung nach sind die Maßnahmen damit verhältnismäßig und auch verfassungskonform.
Wir alle wünschen uns vor allem wieder unser normales Leben zurück, wie wir es vor der Pandemie gewohnt waren. Noch ist es nicht soweit, aber ich bin zuversichtlich, dass wir mit dem erfolgreichen Fortschreiten der Impfkampagne bereits im Sommer wieder deutliche Lockerungen erwarten können. Aber bis dahin müssen wir alle noch einmal auf die Zähne beißen und unsere Kontakte beschränken, auch wenn es schwer fällt.
Ich wünsche Ihnen alles Gute und bleiben Sie gesund!
Herzliche Grüße
Nadine Schön