Frage an Miriam Gruß von Ulrich B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Gruß,
ich bin auf der Suche nach Bundestagsmitgliedern mit echt liberaler
Gesinnung, welche mit mir einer Meinung sind, dass die
Zwangsmitgliedschaft zur IHK auf den Müllhaufen der deutschen Geschichte
gehört.
Sind eventuell Sie mit mir darin einer Meinung ? Oder könnten Sie mir
freundlicherweise Bundestags-Kollegen namentlich nennen, welche sich dafür
in Berlin einsetzen würden ?
Finden Sie es richtig, dass IHKs mit Haftbefehl und Kontenpfändungen gegen
Unternehmer vorgehen dürfen, so wie z. B. die Augsburger IHK
die eigentlich über den ehrbaren Kaufmann wachen soll ??
Über eine Antwort würde ich mich sehr freuen !
Mit freundlichen Grüßen
Ulrich Britzelmair
Sehr geehrter Herr Britzelmair,
Ich möchte Ihnen an dieser Stelle eine etwas ausführlichere Antwort geben. Aus meiner Sicht ist das Thema nicht mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten. Vielmehr möchte ich Ihnen einen Reformvorschlag der FDP zum Kammerwesen vorstellen.
Eckpfeiler einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sind in meinen Augen Selbstbestimmungsrecht und Eigenverantwortung des Bürgers. Es gilt der Grundsatz "Privat vor Staat", sowie das Prinzip der "Subsidiarität", denn Liberale sind davon überzeugt, dass der einzelne Bürger seine Angelegenheiten seinen Bedürfnissen entsprechend am besten regeln kann. Dies gilt danach auch für die Wahrnehmung von Gruppeninteressen.
Der Doppelcharakter der Kammern (Selbstverwaltung des eigenen Bereichs und staatliche Aufgabenwahrnehmung) war - analog zum Doppelcharakter der Kommunen - mit Bedacht gewählt, denn ihre Aufgabe soll sich nicht in der Interessenvertretung der gewerblichen Wirtschaft erschöpfen, sondern zugleich die Berücksichtigung der übergeordneten volkswirtschaftlichen bzw. gesamtwirtschaftlichen Interessen beinhalten (z.B. Lehrlingsausbildung, gutachterliche Stellungnahmen). Nicht zuletzt aus diesem Grunde ermöglicht die Pflichtmitgliedschaft, auch ggf. unpopuläre Maßnahmen vor ihren Mitgliedern vertreten zu können und Trittbrettfahrereffekte zu verhindern. Ohne Pflichtmitgliedschaft aller Betriebe würde das Übergewicht von Konzerninteressen oder einzelner Personeninteressen politisch so sichtbar wie faktisch im Bereich der konkurrierenden freiwilligen Wirtschaftsvereinigungen.
Mit dem Gesetz zur Ordnung des Handwerks (1953) sowie mit dem Industrie- und Handelskammer-Gesetz (1956) wurden die Grundlagen für die heute geltende Ordnung geschaffen. Fünfzig Jahre später rückt die Ausgestaltung des Kammerwesens in Deutschland, teils aufgrund der Erfahrungen mit der Praxis des Kammersystems, teils aufgrund geänderter wirtschaftlicher und technologischer Rahmenbedingungen, teils aber auch aufgrund grundlegender Erwägungen immer wieder ins Kreuzfeuer der Kritik.
Die Feststellung des BVerfG aus 2002 von der "legitimatorischen und freiheitssichernden Funktion" der gesetzlichen Pflichtmitgliedschaft in einer Kammer hat die Debatte nicht beendet. Die FDP nimmt diese Kritik ernst und stellt sich der Herausforderung, einen Diskussionsbeitrag für ein modernes Kammermodell der Zukunft zu entwickeln.
Im Bereich des Kammerwesens haben Liberale eine Abwägung zu treffen:
Zwar schränkt die Organisation der Unternehmen in einer Selbstverwaltungskörperschaft mit Pflichtmitgliedschaft den Freiheitsgrad zunächst ein, doch eröffnet erst diese Einschränkung den Unternehmen die Möglichkeit zur Beteiligung und Mitwirkung an staatlichen Entscheidungsprozessen. Die unmittelbare Staatsverwaltung wird vermieden. Die Betroffenen können ihre Angelegenheiten, auch im hoheitlichen Bereich, selber regeln. Die Kammern unterliegen lediglich der Rechtsaufsicht. Durch die Pflichtmitgliedschaft werden also auch neue Freiheitsgrade eröffnet und gesichert.
Industrie- und Handels- sowie Handwerkskammern auf privatrechtlicher Grundlage machen den Unternehmer zwar frei in seiner Entscheidung, sich einer dieser Organisationen anzuschließen. Doch der Preis für diesen Freiheitsgrad ist eine Einschränkung seiner Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten bei der Wahrnehmung und Umsetzung von wirtschaftsrelevanten Verwaltungsaufgaben. Denn die Wahrnehmung von hoheitlichen Aufgaben bei Nutzung des Instituts der "Beleihung" unterliegt der Rechts- und Fachaufsicht des Staates oder könnten gänzlich auf den Staat rückübertragen werden .
Selbstverwaltung statt Verstaatlichung - Für eine Reform der Kammern
Der Unmut über die Pflichtmitgliedschaft speist sich aus drei Gründen, die eine Kammerreform, die nachhaltig sein soll, berücksichtigen muss:
1. Eine größere Zahl an IHK-Mitgliedern - die meisten Klein- und Kleinstbetriebe - ist mit der Pflichtmitgliedschaft unzufrieden. Die Pflichtmitgliedschaft paßt für sie nicht zum Zeitgeist. Firmen wie Individuen wollen sich nicht mehr dauerhaft an einen Verein oder eine Gemeinschaft binden. Sie wollen keine monatliche Rundfunkgebühr zahlen, sind jedoch bereit, für video on demand mehr zu bezahlen. Sie bezahlen gerne für eine Stunde in der Tennishalle, wollen jedoch keine dauerhafte Bindung an einen Verein eingehen. Das gleiche gilt für die Kammern. Betriebe, die die Pflichtmitgliedschaft ablehnen oder als notwendiges Übel akzeptieren, sind bereit, für gute Leistungen gutes Geld zu zahlen. Kammern und Politik mögen diese Einstellung für falsch halten, sie ändert sich damit nicht.
2. Die eigentliche Aufgabe der Kammern (und die Begründung der Pflichtmitgliedschaft) ist es, für die Wirtschaft insgesamt zu sprechen, dabei auch staatliche und unternehmerische Interessen abzuwägen und sich dabei auch, wenn sachlich geboten, gegen einzelne Branchen- oder Unternehmensinteressen auszusprechen, statt - wie Verbände - nur die Interessen der Verbandsmitglieder zu vertreten. Das führt dann gelegentlich zu heftigen Unmutsäußerungen einzelner Betriebe oder Branchen. Um dem vorzubeugen, nehmen manche Kammern diese Aufgabe heute nicht ausreichend konsequent wahr. So kommt es, dass einerseits in der Begründung der Pflichtmitgliedschaft von den Kammern stets die gesetzliche Pflicht zur Unabhängigkeit und Neutralität betont wird, andererseits die Wirklichkeit das nicht durchgehend belegt. Manche Unternehmen, die diesen Widerspruch erfahren haben, sind deswegen zwar nicht zu Kammergegnern geworden, jedoch zumindest indifferent. In den 1960ern war das noch anders.
3. Teilweise werden ineffiziente Strukturen der Kammern, die sich bei - im Wesentlichen - gleichen Aufgaben in höchst unterschiedlichen Kostenstrukturen und Beiträgen manifestierten, zu Recht beklagt. Unternehmen, die im harten Kostenwettbewerb stehen, kann man nicht verübeln, wenn sie die extrem divergierende Effizienz- und Kostenstruktur der Kammern kritisieren. Auch die sehr unterschiedliche Größenstruktur der Kammern ist Gegenstand gelegentlicher Kritik, nach der entweder die großen Kammern zu groß oder die kleinen zu klein sind. Auffallend ist, dass von den Kammern heute zunehmend spezialisierte Dienstleistungen -Beispiel Zollberatung - erwartet werden, für die sich angesichts der Fallzahlen nur größere Kammern die entsprechenden Mitarbeiter leisten können. Kleinere Kammern müssten ihren Nachteil durch Fusion oder eine sachadäquate Vernetzung ausgleichen. Mehr Effizienz könnte durch bessere Vernetzung zwischen den Kammern oder durch Wettbewerb unter Kammern erreicht werden. In jedem Fall ist es unabdingbar, Transparenz über entsprechende Leistungskenndaten herzustellen.
Die FDP sieht in der bestehenden auf dem Grundsatz der Pflichtmitgliedschaft begründeten Organisation der Industrie- und Handelskammern sowie der Handwerkskammern in Form von Körperschaften öffentlichen Rechts eine geeignete Form der Selbstverwaltung der Wirtschaft und der Interessenvertretung der Unternehmen.
Es besteht jedoch ein erhebliches Maß an Reformbedarf, um den Anforderungen einer sich immer weiter globalisierenden Wirtschaft gerecht zu werden und so das deutsche Kammerwesen wetterfest zu machen. Eine Kammerreform muss die drei genannten Punkte berücksichtigen:
Erstens sollten jene Kleinstfirmen, die keinen originär gewerblichen Charakter haben und nicht ausbilden können, auf Dauer von Beiträgen befreit werden. Das sind im Übrigen auch jene Unternehmen, die mangels ihrer Größe spezifische Dienstleistungen der Kammern (z.B. Außenwirtschaft) in der Regel nie nutzen werden.
Zweitens müssen die Kammern für mehr Transparenz in ihrer Rechnungslegung, Geschäftsführung und Qualität sorgen. Dazu sind entsprechende Leistungskennzahlen einzuführen, wie sie auch im unternehmerischen Controlling üblich sind. Darüber hinaus müssen die Kammern gefordert und in die Lage versetzt werden, wieder ihre eigentliche Aufgabe, das Gesamtinteresse der Wirtschaft zu artikulieren, wahrzunehmen.
Gleichzeitig sollen die Kammern sich auf ihre Kernaufgaben beschränken. Diese sind vornehmlich:
* Betreuung von Auszubildenden
* Durchführung von Zwischen- und Abschlussprüfungen
* Existenzgründungsberatung
* Sachverständigenwesen
* Gutachterliche Stellungnahmen zu Förderanträgen
* Stellungnahme zur Eintragungsfähigkeit ins Handelsregister
* Erstellung von Exportdokumenten
Drittens muss die innere Verfassung der Industrie- und Handelskammern sowie der Handwerkskammern mehr Demokratie, Transparenz und Effizienz ermöglichen. Um die Mitwirkungsrechte der einzelnen Kammermitglieder zu stärken, sind im Einzelnen folgende Neuerungen umzusetzen
- Einzelkandidaturen für die Vollversammlungswahlen müssen ohne eine Mindestzahl von Unterstützerunterschriften möglich sein, die Kandidaten müssen sich und ihr Wahlprogramm auf Wunsch kostenfrei in den den Mitgliedern zugänglichen Medien der Kammer (Kammerzeitschriften, Internet, etc.) vorstellen können
* stimmberechtigte Mitglieder der Kammergremien müssen gewählt sein, es können weitere Mitglieder ohne Stimmrecht kooptiert werden; Vollversammlungssitzungen und Wirtschaftspläne müssen für Mitglieder öffentlich sein
* Das Problem der Doppel- und Mehrfachmitgliedschaft in verschiedenen Kammern muss dahingehend gelöst werden, dass im Ergebnis nur ein Kammerbeitrag bezahlt und anteilig auf die betreffenden Kammern aufgeteilt wird.
* Gesetzlicher Auftrag zur dauernden selbstkritischen Aufgabenkritik, einschließlich der Prüfung des Katalogs der auf die Kammern übertragenen hoheitlichen Aufgaben auf Notwendigkeit und Verfahrenseffizienz sowie Aufträge zur Vorlage von Vorschlägen zur Entbürokratisierung.
Bindung aller wirtschaftlichen Aktivitäten der Kammern an Vollversammlungsbeschlüsse, bei gesetzlichem Ausschluss von Quersubventionierung aus Pflichtbeiträgen und bei denselben steuerlichen Rahmenbedingungen wie private Anbieter.
* Die Industrie- und Handelskammern sowie die Handwerkskammern sind Dienstleister für ihre Mitglieder. Sie behalten gesetzlich die Aufgabe, ihre wirtschafts- und gesellschaftspolitische Aktionskraft in den einzelnen Regionen bedarfsgerecht auszubauen, beispielsweise bei der betrieblichen Ausbildung, der Beratung von Existenzgründern, der Standortverbesserung und dem Standortmarketing oder dem Kontakt von Schulen und Wirtschaft sowie Wirtschaft und Wissenschaft.
Was würde mit einer solchen Reform erreicht?
Die Kernaufgabe der Kammern, auf der der Grundsatz der Pflichtmitgliedschaft beruht, unabhängig und neutral das Gesamtinteresse der Wirtschaft bei Stellungnahmen und Gutachten zu vertreten, wäre mit den vorgeschlagenen Reformen auch in Zukunft voll gewährleistet.
Reformierte Kammern mit Pflichtmitgliedern geben auch in Zukunft eine bessere Gewähr für die Wahrnehmung des Gesamtinteresses der Wirtschaft in Selbstverwaltung als die Abschaffung der Kammern zugunsten freiwilliger Zusammenschlüssen. Aufgabenerfüllung in Selbstverwaltung der Betroffenen ist aus Sicht der Liberalen demokratischer, freiheitlicher und in aller Regel effizienter als durch den Staat.
Mit freundlichen Grüßen
Miriam Gruß