Frage an Michael Luther von Marcel S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Abgeordneter Dr. Luther,
wie Sie wissen, stimmte im Juni 2002 erstmals eine Mehrheit der Bundestagsabgeordneten einem Gesetzesentwurf für Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide zu. Da aber Ihre Partei, die CDU, diesem Gesetzesentwurf seinerzeit nicht zugestimmt hat, hat es leider nicht gereicht. Es fehlte die erforderliche Zweidrittel-Mehrheit für die entsprechende Grundgesetzänderung.
Wie Sie ganz sicher auch wissen, sind führende Politiker Ihrer Partei aber grundsätzlich für Volksabstimmungen. Dazu zählen unter anderem der Noch-Ministerpräsident von Bayern, Edmund Stoiber, und sein möglicher Nachfolger, der derzeitige bayerische Innenminister Günter Beckstein, aber auch der Ministerpräsident von NRW, Jürgen Rüttgers, und der saarländische Ministerpräsident Peter Müller. Ja, das Saarland hat als erster Landesverband der CDU bundesweite Volksentscheide gefordert!
Nun habe ich in dem Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD gelesen, daß vereinbart ist, die Einführung von Elementen der direkten Demokratie zu prüfen (siehe Art. VI, Ziff. 8).
Meine ganz einfache Frage an Sie lautet da: Wie weit sind Sie in der Großen Koalition mit dieser Prüfung?
Vielen Dank für eine Antwort hierauf!
Mit freundlichen Grüßen
Marcel Scharfenstein
Sehr geehrter Herr Scharfenstein,
vielen Dank für Ihre Frage vom 31.01.2007 zum Thema Volksbegehren und Volksentscheide auf der Homepage von www.abgeordnetenwatch.de.
Ich halte die Internetseite www.abgeordnetenwatch.de für sehr sinnvoll, da sie den Prozess der politischen Entscheidungsfindung für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes transparenter macht. Aus diesen Gründen begrüße ich die Arbeit von www.abgeordnetenwatch.de und möchte sie unterstützen.
Daher bin ich gerne bereit, Ihr Anliegen einzugehen und Ihre Frage bestmöglich zu beantworten. Die Transparenz, wie sie durch www.abgeordnetenwatch.de hergestellt wird, hat meiner Ansicht nach allerdings zwei Seiten. So wie Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben, wenn Sie mir schreiben, möchte ich ebenfalls erfahren, wer sich mit einer Frage an mich wendet.
Haben Sie bitte daher Verständnis dafür, dass ich keine Fragen beantworten möchte, die mir anonymisiert oder ohne nachvollziehbare Adresse über das Internet gestellt werden. Um eine missbräuchliche Verwendung dieses Forums auszuschließen, möchte ich Sie zur Beantwortung Ihrer E-Mail daher bitten, mir Ihre Kontaktdaten (Adresse, Telefonnummer) zukommen zu lassen.
Diese können Sie mir entweder über www.abgeordnetenwatch.de oder per E-Mail ( michael.luther@bundestag.de ) mitteilen oder aber Sie wenden sich direkt an mein Zwickauer Wahlkreisbüro. Entsprechend werde ich dann Ihre Frage entweder öffentlich über www.abgeordnetenwatch.de, gerne aber auch direkt über Ihre private Post- oder E-Mailadresse beantworten.
Meine Anschrift lautet:
Wahlkreisbüro Michael Luther MdB
Hauptstraße 28
08056 Zwickau
Tel.: 0375-291779
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Michael Luther
Sehr geehrter Herr Scharfenstein,
haben Sie vielen Dank für Ihre Anfrage zum Thema Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide. Nachdem ich mich eingehend mit der Thematik beschäftigt habe, möchte ich Ihnen heute antworten.
Schon vielfach hat sich der Deutsche Bundestag mit dem Thema einer stärkeren Beteiligung des Volkes an der Gesetzgebung beschäftigt. Die Einführung von Plebisziten auf Bundesebene ist sowohl eine verfassungsrechtliche als auch eine politische Grundsatzfrage, die in Ruhe und vor allem sachlich diskutiert werden muss.
Grundsätzlich stört mich an dieser Diskussion, dass den Gegnern von Plebisziten immer wieder populistisch unterstellt wird, sie hielten die Bevölkerung für nicht in der Lage, ihre Meinung sachgerecht zu äußern. Es kommt noch hinzu, dass von den Befürwortern von Plebisziten der Eindruck erweckt wird, als sei nur die unmittelbare Demokratie die wahre Demokratie und ein Allheilmittel gegen Politikverdrossenheit. Das jetzige System der repräsentativen Demokratie sei im Gegensatz dazu eine minderwertige Form der Demokratie, ein geschichtliches Versehen, das endlich korrigiert werden müsse. Wer so argumentiert, verkennt, dass uns das mit guten Gründen gewählte System der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie in der Bundesrepublik über 50 Jahre hinweg eine nicht zu unterschätzende politische Stabilität beschert hat.
Lassen Sie mich deshalb sechs Gründe nennen, die meiner Ansicht nach gegen die Einführung plebiszitärer Elemente und für unsere repräsentative Demokratie sprechen.
Erstens: Plebiszite bergen die Gefahr des Missbrauchs und der politischen Destabilisierung. Für diese Bedenken und Vorbehalte gibt es Beispiele aus unserer deutschen Geschichte. In der Weimarer Republik haben Volksabstimmungen das Land politisch aufgewühlt und gespalten und letztlich mit zu deren Scheitern beigetragen. Im III. Reich wurden Volksbefragungen dazu missbraucht, die diktatorischen Entscheidungen des Naziregimes nach außen demokratisch legitimiert erscheinen zu lassen, wie etwa 1933 der Austritt aus dem Völkerbund oder 1938 der Anschluss Österreichs. Der Parlamentarische Rat hat sich daher ganz bewusst und strikt zur parlamentarisch-repräsentativen Demokratie und gegen Plebiszite bekannt, als er 1948/49 das Grundgesetz ausgearbeitet hat.
Zweitens: Gegen Plebiszite sprechen auch die immer komplexer werdenden Fragestellungen unserer pluralistischen Gesellschaft. Um diesen gerecht zu werden, ist ein ausgewogenes, auf Kompromissbereitschaft basierendes Entscheidungs- und Gesetzgebungsverfahren erforderlich. Im Gegensatz zu Plebisziten können im parlamentarischen Verfahren verschiedene Interessen, insbesondere auch die von Minderheiten, berücksichtigt und gewichtet werden: durch Beratungen im Plenum und in Ausschüssen, Berichterstattergesprächen und Sachverständigenanhörungen. Bei Volksentscheidungen ist dieses ausgewogene Verfahren nicht möglich, denn dabei geht es letztlich nur um die Frage „Ja oder Nein?“.
Drittens: Plebiszite beeinträchtigen die verfassungsrechtlich garantierte föderale Grundstruktur unseres Staates. Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes garantiert die grundsätzliche Beteiligung der Länder an der Gesetzgebung. Bei der Volksgesetzgebung bliebe die Beteiligung der Länderinteressen außen vor. Die vorliegenden Gesetzentwürfe sehen zwar die Möglichkeit der Konkurrenzvorlage durch den Bundestag vor, nicht aber durch den Bundesrat. Sie enthalten zwar eine Länderklausel, aber das ist keine inhaltliche Mitgestaltung der Länder im Sinne des Grundgesetzes, sondern eine reine Formalie.
Viertens: Plebiszite bergen zudem die Gefahr der weiteren Abwertung des Parlaments. Der Deutsche Bundestag hat schon heute gegen Bedeutungsverlust zu kämpfen. Dies hängt mit Europa zusammen, mit der Normenflut der europäischen Institutionen, mit der Föderalismusreform, bei der der Bund den Ländern zu Recht weitere Zuständigkeiten überträgt, und schließlich mit der gestiegenen Neigung, politische Debatten in Talkshows anstatt im Plenum auszutragen. Kämen jetzt auch noch Plebiszite hinzu, sei die Frage erlaubt, über welche wichtigen Fragen das Parlament überhaupt noch eigeninitiativ zu entscheiden hätte.
Fünftens: Durch Plebiszite besteht die Gefahr, dass sich Parlamentarier ihrer Verantwortung entziehen und insbesondere unpopuläre und sensible Fragestellungen einer Entscheidung des Volkes überließen.
Sechstens: Auch bergen Plebiszite die Gefahr, dass Sachfragen nicht nach sachbezogenen Gesichtspunkten entschieden werden. Es ist auch zu befürchten, dass sich das Volk und der Einzelne von Stimmungen, einseitiger Stimmungsmache oder subjektiver Betroffenheit leiten lassen, da organisierte und öffentlichkeitswirksame Lobbyarbeit mehr Einfluss erhalten könnte. Populismus, Stimmungsmache, schlagwortartige Parolen können die Entscheidung über Sachfragen zum unsachlichen Abstimmungskampf degradieren. Außerdem könne und wollen nur wenige Bürger sich schon allein aus Zeitgründen mit einer oftmals umfangreichen und fachlich schwerwiegenden Materie intensiv auseinandersetzen.
In der Gesamtschau sind das alles Gründe gegen eine Ausweitung der unmittelbaren Demokratie und zugleich ein Plädoyer für unser bewährtes parlamentarisch-repräsentatives System.
Ich will noch zwei der gängigsten Argumente ansprechen und entkräften, die von Anhängern von Plebisziten immer wieder erhoben, deshalb aber trotzdem nicht stichhaltiger werden.
Erstens werden angeblich mit direktdemokratischen Verfahren auf Landesebene und kommunaler Ebene positive Erfahrungen gemacht. Man darf aber nicht verkennen, dass die politischen Fragen in den Kommunen und in den Ländern regional und sachlich viel besser überschaubar sowie weniger komplex sind. Insgesamt hinken diese Vergleiche gewaltig.
Zweitens wird mit Plebisziten angeblich der Politikverdrossenheit und dem Vertrauensverlust der Politiker entgegengewirkt. Ich warne davor, die Wirkung von Plebisziten insoweit zu überschätzen. Vor allem erscheint mir dieses Argument geradezu unlogisch. Warum soll das Vertrauen in Politik und das Parlament eigentlich genau dann gesteigert werden, wenn das Parlament über wichtige gesetzliche Regelungen nicht mehr selbst entscheiden soll, sondern die Verantwortung abgibt? Das hat mir bis jetzt noch niemand erklären können.
Auch eine Steigerung der Beteiligung an Wahlen und Abstimmungen tritt dadurch nicht ein. Ich weiß, dass Vergleiche nur schwer möglich sind, aber hier lohnt sich einmal ein Blick in die Schweiz. Dort liegt die Wahlbeteiligung meist unter 50 Prozent. Sie ist also niedriger als in jedem anderen demokratischen Land. Das zeigt: Direktdemokratische Elemente können kontraproduktiv wirken und die Gefahr der Wahlmüdigkeit nimmt sogar zu. Insgesamt glaube ich, dass es ein Trugschluss ist, dass die Politikverdrossenheit mit der Einführung von mehr direkter Demokratie überwunden werden könnte.
Die Ergänzung unserer repräsentativen Demokratie um plebiszitäre Elemente auf Bundesebene würde die Wesenszüge unserer Demokratie meines Erachtens verändern. Man darf die Gefahr des Populismus, der in Plebisziten steckt, nicht unterschätzen.
Ich hoffe, dass ich Ihnen mit diesen Erläuterungen meine Position und die der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausreichend darlegen konnte.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Michael Luther