Wer die BILD liest und andere Medien hört und sieht, kann zu der Annahme kommen, dass die Gräben zwischen Ost und West immer tiefer und die Mauern immer höher werden. Wie sehen Sie die Situation?
An erster Stelle: Die Aussagen des Axel-Springer Vorstandsvorsitzenden, auf die Sie sich vermutlich auch beziehen, sind äußerst problematisch. Nicht nur jene in Bezug auf Ostdeutschland, sondern auch seine antimuslimischen und rassistischen Äußerungen spiegeln eine verbale Entmenschlichung und Stigmatisierung wieder, die ich aufs Schärfste verurteile. Viele Menschen aus Ostdeutschland erfahren dies leider heute ebenso wie vor 30 Jahren. Der Frust darüber ist verständlicherweise groß.
Wir wollen als Land vereint sein. Die Gräben zwischen Ost und West werden nur tiefer, wenn wir keinen Weg findet, uns mit Respekt und ernsthaftem Interesse zu begegnen. Fakt ist, dass es im Westen Deutschlands nach wie vor an Wissen über den Osten des Landes, seine Menschen, Geschichte und Lebensrealitäten fehlt. Die leider hohen Wahl- und Umfrageergebnisse rechtsextremer Parteien und die Politikverdrossenheit vieler werden häufig auf Stereotypen zurückgeführt, anstatt sich mit strukturellen Ungleichheiten auseinanderzusetzen. Klar ist ebenso, dass die Politik der letzten 30 Jahre zu wenig getan hat, um Ostdeutsche ernsthaft in Entscheidungen einzubinden, die sie selbst betreffen. In Leitungspositionen, sei es in Politik, Wirtschaft oder Bildungsstätten bleiben Menschen aus Ostdeutschland unterrepräsentiert. Diese mangelnde Repräsentation spiegelt sich daraufhin, wie auch bei anderen ungleich vertretenen Gruppen, in den verschiedenen Entscheidungen wieder. Hinzu kommt, dass von Parteien wie insbesondere der AfD ausschließlich Populismus und Hass gesät wird, anstatt sich für mehr Bürger:innenbeteiligung und eine gerechtere, sozialverträgliche Politik einzusetzen.
Eine ernsthafte Auseinandersetzung von Westdeutschen mit den Menschen und der Geschichte ostdeutscher Bundesländer ist wichtig, um den Vorurteilen und Stigmatisierungen, wie sie der Vorstandsvorsitzende vom Axel-Springer Verlags geäußert hat, entgegenzutreten. Ich bin davon überzeugt, dass wir voneinander sehr viel lernen können. Ich persönlich habe, seit ich in Dresden lebe, unzählige lehrreiche Begegnungen gehabt und so auch meine ganz persönlichen Wissenslücken schließen können. Der Osten bringt aufgrund seiner Geschichte etwa enorme Kompetenz im Bereich Transformation mit. Diese können wir überall gebrauchen. Damit diese Kompetenzen genutzt werden und so auch die Geschichte und die Leistung vieler Ostdeutscher in der Gesellschaft anerkannt werden, müssen diese aber auch politisch und medial beachtet und gewürdigt werden.
Gleichzeitig verlaufen viele Ungerechtigkeiten in Deutschland nicht ausschließlich entlang der Ost-West-Grenze. Es gibt auch in westdeutschen Regionen Armut, niedrige Einkommen oder geringes Vermögen. Gerade mit Blick auf Strukturwandelregionen, wie etwa dem Ruhrgebiet oder der Lausitz, und deren Transformationspotenzial kann man mit einem wohlwollenden Blick auch Gemeinsamkeiten statt Trennlinien finden. Fragen von Klasse spielen hier eine enorme Rolle.