Wie kann Hessen die Entwicklung und Verzahnung von schulischer und beruflicher Inklusion deutlich und schneller verbessern?
Sehr geehrter Herr Wagner!
Ich habe bei einem privaten Straßenfest ein betagtes Großelternpaar kennengelernt, dass sein mittlerweile erwachsenes Enkelkind regelmäßig in Schleswig-Holstein besucht. Als blind geborenes Kind konnte es in Hessen nicht inklusiv beschult werden. So haben die Eltern es in Schleswig-Holstein entgegen einer Blindenschule, auf einem inklusiven Gymnasium beschulen lassen. Mittlerweile promoviert es in Jura und wird Staatsanwalt werden. Im Vergleich zu Hessen hat Schleswig-Holstein keine Förderschulen und keine Regelschulen ohne Inklusion. In Schleswig-Holstein wird der Übergang in das Berufsleben und die berufliche Inklusion systematischer betrieben. In Hessen hingegen fehlt es bisher an einem flächendeckenden Konzept. Verlieren wir hier nicht nur Zeit, sondern auch heimische und profunde Talente? Wie möchten Sie in geeigneter Weise dagegen opponieren?
Sehr geehrter Herr R.,
vielen Dank für Ihre Anfrage zur inklusiven Beschulung in Hessen, zu der ich Ihnen gerne eine Rückmeldung gebe.
Wir GRÜNEN wollen eine inklusive Gesellschaft mit gleichen Lebenschancen und gleichberechtigter Teilhabe für Menschen mit und ohne Behinderung. Der schulischen Inklusion kommt hierbei eine entscheidende Bedeutung zu. Das Land Hessen hat sich zudem wie alle anderen Bundesländer zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (VN-BRK) juristisch verpflichtet. Das heißt, dass der Zugang zum allgemeinen Bildungssystem für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen gewährleistet werden muss. Entscheidend ist für uns dabei der Elternwunsch für den Förderort (Förderschule oder inklusive Beschulung) – das bedeutet für uns, dass niemand sich genötigt sehen darf, sein Kind auf die Förderschule zu schicken, weil wohnortnah keine adäquate inklusive Beschulung an einer allgemeinbildenden Schule gewährleistet werden kann.
Unter GRÜNER Regierungsbeteiligung haben wir in den letzten Jahren in Hessen im Bereich der inklusiven Beschulung bereits deutliche Fortschritte gemacht. Die Zahl der Förderschullehrkräfte, die an allgemeinbildenden Schulen im inklusiven Unterricht eingesetzt werden, haben wir während unserer Regierungsbeteiligung um ca. 50 Prozent gesteigert. Inzwischen werden knapp ein Drittel mehr Förderschullehrkräfte im inklusiven Unterricht als an Förderschulen eingesetzt. Zudem haben wir die Studienplatzkapazitäten im Förderschullehramt seit 2017 um ca. 85 Prozent massiv gesteigert. Mit einem neuen Studiengang Förderpädagogik an der Universität Kassel, der zum Wintersemester 24/25 mit über 60 Studienplätzen an den Start gegangen ist, wird zudem nicht nur die Fachkräftesituation in Nordhessen verbessert, sondern der neue Studiengang setzt auch einen stärkeren Schwerpunkt auf die Inklusion an allgemeinbildenden Schulen. Gleichzeitig haben wir das Thema Inklusion als ein Querschnittsthema in der Lehrkräfteausbildung verankert, das zukünftig verbindlicher Bestandteil in allen drei Phasen der Lehrkräftebildung (Studium, Referendariat, Fortbildungen) sein wird und somit mittelfristig zu einer deutlichen Professionalisierung der Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen in diesem Bereich beitragen wird.
Auch mit dem Ausbau der multiprofessionellen Teams an Schulen haben wir die inklusive Beschulung unterstützt. Auf GRÜNE Initiative wurden 2018 vom Land Hessen erstmals Stellen für sozialpädagogische Fachkräfte („UBUS“) zur Verfügung gestellt, inzwischen stehen hierfür über 1.100 Stellen zur Verfügung. Dabei kommt diese Maßnahme insbesondere Schulen mit besonders großen Herausforderungen zugute: Beispielsweise erhalten Grundschulen, die viele Schüler*innen inklusiv beschulen, mindestens eine sozialpädagogische Fachkraft zugewiesen. Seit dem Schuljahr 2020/2021 erhalten Grundschulen zudem pro 250 Schüler*innen eine Sonderpädagogische Grundzuweisung, haben also Anspruch auf eine feste Förderschullehrkraft, die an der Schule Vollzeit tätig ist.
Durch alle diese Anstrengungen kann dem Wunsch nach inklusiver Beschulung auch in Hessen inzwischen in den meisten Fällen entsprochen werden. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass wir in Hessen mit der Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. in Marburg über eine auf die speziellen Bedürfnisse von blinden und sehbehinderten Menschen ausgerichtete Bildungseinrichtung verfügen, die verschiedene Schul- und Berufsabschlüsse anbietet und ganz gezielt die berufliche und gesellschaftliche Teilhabe dieser Menschen fördert.
Gleichwohl sind wir uns bewusst, dass es weitere Anstrengungen braucht, um die Bedingungen der inklusiven Beschulung in Hessen weiter zu verbessern. Das betrifft unter anderem die Frage, wie wir einer besseren Beteiligung von Schulen aller Schulformen an der inklusiven Beschulung erreichen können. Bisher sehen wir hier eine deutliche Konzentration an den Grundschulen, Gesamtschulen sowie Haupt- und Realschulen – an Gymnasien und auch beruflichen Schulen ist die inklusive Beschulung nach wie vor deutlich schlechter aufgestellt. Unter anderem diesem Thema wollten wir uns in dieser Legislaturperiode widmen, bspw. durch eine feste Zuweisung von Förderschullehrkräften für berufliche Schulen – dies betrifft auch die von Ihnen angesprochene Frage des Berufsübergangs. Nun sind unsere Einflussmöglichkeiten durch den Wechsel in die Opposition deutlich begrenzter, als erhofft - ich kann Ihnen aber versichern, dass wir uns auch aus der Opposition heraus weiterhin dafür einsetzen werden, dass der von uns eingeschlagenen Weg für bessere Bedingungen in der inklusiven Beschulung weitergegangen wird.
Mit freundlichen Grüßen
Mathias Wagner