Frage an Martin Dörmann von Max B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Guten Tag!
Ich hätte an Sie einmal eine Frage zu Ihrer Meinung bezüglich des deutschen Wahlsystems.
Mit der Zweitstimme wählt man eine Parteiliste bzw. Landesliste. Die Listenplätze werden von den entsprechenden Gremien der Partei vergeben. Damit haben die Parteien die Macht, mindestens die Hälfte der Bundestagsabgeordneten ohne persönliche Legitimierung in den Bundestag zu bringen.
Halten Sie es angesichts der Tatsache, dass der Bundestag, zumindest in der Theorie, eine Volksvertretung darstellen sollte, für sachdienlich, dass der Wähler nur die Hälfte der Abgeordneten per Erststimme wählt?
Halten Sie es angesichts der Mitgliederentwicklung der Parteien, die, abgesehen von einem kurzen Wiederveinigungsboom, dramatisch nach unten tendiert, noch für zeitgemäß dass solchen Organisationsformen, die scheinbar täglich an Zustimmung verlieren, eine derartige Machtposition zu kommt?
Da die Wahrscheinlichkeit einer Reform des Wahlsystems in einem derart erstarten Land gegen Null tendiert, ist mir klar. Wäre es nicht wenigsten möglich, im Rahmen des derzeitigen Wahlsystems, wenigsten die Listenplätze durch Vorwahlen oder durch kumulieren/panaschieren zum Teil demokratischer zu vergeben?
Und ganz wichtig: Was halten Sie vom relativen mehrheitswahlrecht (Frankreich)? Das ist doch eigentlich das optimale System, in dem man so viele Wahlkreise wie Bundestagsabgeordnete oder andersrum schafft (egal ob 299 Abgeordnete oder 598 Wahlkreise). Dann gäbe es, falls ein Kandidat nicht mehr als 50 % der Stimmen erlangt, eine Stichwahl, die immer noch Koalitionselemente aufweist. Das Argument, dass kleiner Parteien darunter leiden (Bin selbst eher für die FDP), kann man doch nicht ernsthaft anführen. Wenn die Wähler eine solche Partei an der Regierung sehenmöchten, würde sie mit entsprechenden Stimmen ausgestattet werden.
Für Ihre Antwort danke ich im Voraus und wünsche ein schönes Wochenende!
Sehr geehrter Herr Bauer,
vielen Dank für Ihre Frage.
Zunächst einmal: Jedes Land hat seine eigenen demokratischen Traditionen und unterschiedlichen Wahlsysteme, die jeweils Vor- und Nachteile haben.
Wenn man aber schon den Vergleich mit anderen Staaten ziehen will, so glaube ich doch, dass wir mit unserer parlamentarischen Demokratie in Deutschland in den sechs Jahrzehnten, die sie nun besteht, insgesamt sehr gut gefahren sind. Jedenfalls kann ich nicht erkennen, dass es in vergleichbaren Ländern besser läuft als bei uns. Jedenfalls bei Bundestagswahlen haben wir eine relativ gute Wahlbeteiligung. Und die Zahl der aktiven Parteimitglieder kann sich in Deutschland gegenüber anderen Staaten durchaus sehen lassen.
Dass die Anzahl der Parteimitglieder seit vielen Jahren insgesamt rückläufig ist, ist aus meiner Sicht in erster Linie eine allgemeine gesellschaftliche Entwicklung, die auch Folgen für die Parteien hat. Schließlich haben wir solche Entwicklungen auch im Bereich der Kirchen, der Gewerkschaften und in den Vereinen. Unsere Gesellschaft individualisiert sich zunehmend, so dass solche Organisationsformen für viele Menschen nicht mehr so attraktiv sind wie früher. Das spricht aber nicht von Vornherein gegen diese Organisationen, die sich allerdings den Herausforderungen, die damit verbunden sind, stellen müssen.
Ich halte unsere parlamentarische Demokratie mit den politischen Parteien, die sie stützen, für eine Erfolgsgeschichte und erhaltenswert. Jedenfalls den Volksparteien obliegt die Aufgabe, in ihren Programmen und in ihrer praktischen Politik unterschiedliche Interessen abzuwägen und soweit wie möglich zu einem gerechten Ausgleich zu bringen, orientiert an den jeweiligen Werten, die eine Partei vertritt.
Was die Frage eines Mehrheitswahlrechts angeht: Gerade weil die Gesellschaft sich immer weiter individualisiert, besteht ja ein Trend zu kleineren Parteien, die anders als die beiden großen Volksparteien Klientelinteressen deutlicher abbilden können. Ich würde es für widersprüchlich halten, in einer solchen Situation ein Mehrheitswahlrecht einzuführen. Dies würde doch am Ende nur als Versuch der Volksparteien gewertet, ihre Position zu behaupten. Das würde letztlich zu einem großen Vertrauensverlust führen, mithin absolut kontraproduktiv wirken.
Die Parteien und deren Landeslisten sind auch demokratisch legitimiert, nicht nur die direkt gewählten Kandidatinnen und Kandidaten. Über die Stärke der Parteien entscheidet ja die Zweitstimme. Erhält eine Partei keine Zweitstimmen, kann sie niemanden über die Landesliste entsenden. Wenn man genau hinschaut, wird man zudem erkennen, dass es bei der Erststimme in den meisten Fällen durchaus gerade auf die Parteizugehörigkeit der Direktkandidaten ankommt, wenn man ihre Erfolgsaussichten beurteilen will. Nur in ganz vereinzelten Ausnahmefällen haben es nämlich Vertreter der kleineren Parteien geschafft, Direktmandate zu gewinnen. Auch bei der Erststimme kommt es somit für viele Wählerinnen und Wähler ganz entscheidend auf die Parteizugehörigkeit an. Auch dies darf man nicht ausblenden.
Parteien tragen im Übrigen dazu bei, dass auch Bürgerinnen und Bürger, die nicht über einen besonders guten finanziellen Hintergrund verfügen, in das Parlament einziehen können. So will ich darauf hinweisen, dass beispielsweise in den USA der Wahlkampf eines Kandidaten für den Kongress meist Millionenhöhen erreicht und von diesen persönlich durch eigenes Geld oder requirierte Spenden zu finanzieren ist. Unser Parteiensystem sorgt im Gegensatz dazu dafür, dass es eine viel stärkere Durchlässigkeit aus unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen geben kann.
Letztlich hängt aber natürlich die Qualität einer Demokratie immer davon ab, dass sich möglichst viele Menschen politisch engagieren. Deshalb kann ich nur jede einzelne Bürgerin und jeden einzelnen Bürger auffordern, dies zu tun, sei es in Parteien, in Bürgerinitiativen oder ganz persönlich im sozialen Umfeld. Es gibt viele Möglichkeiten, einer Demokratie zum Erfolg zu verhelfen. Ich sehe allerdings nicht, wie sich die unterschiedlichen Ansichten und Interessenlagen ganz ohne politische Parteien zusammenführen ließen.
Helmut Schmidt hat einmal sinngemäß gesagt: Gute Politik ist die Kunst des Kompromisses. Für gute Politik in Deutschland sind die politischen Parteien aus meiner Sicht weiterhin unverzichtbar.
Mit freundlichen Grüßen
Martin Dörmann, MdB