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Markus Tressel
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Frage von Jonathan O. •

Frage an Markus Tressel von Jonathan O. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Tressel,

mit Entsetzen muss ich die letzten Tage verfolgen, wie die Flüchtlinge in Berlin auf dem Refugee Camp von der Polizei schikaniert werden. Decken und Schlafsäcke sind laut der polizeilichen Auslegung der Auflagen verboten, selbst auf Pappen darf nicht gesessen werden; all das, während die Flüchtlinge sich in einem seit mehreren Tagen andauernden Hungerstreik befinden. Gerade nachts kommt es immer wieder zu Polizeigewalt, alles glücklicherweise gut dokumentiert durch zahlreiche Livestreams und Aufnahmen.

Was kann man Ihrer Meinung nach gegen Polizeigewalt unternehmen?

Was kann dagegen unternommen werden, dass Gewalt von Polizisten nahezu nie aufgeklärt wird, dass sich Polizisten in einem falsch verstandenen Gefühl der Solidarität gegenseitig decken?

Wie stehen sie zu folgenden Forderungen?
- Stopp aller Abschiebungen
- Anerkennung aller AsylbewerberInnen als politische Flüchtlinge
- Aufhebung der Residenzpflicht
- Schließung aller Isolationslager

Mit freundlichen Grüßen,

Portrait von Markus Tressel
Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Oberländer,

vielen Dank für Ihre Mitteilung vom 31.10.2012. Im Hinblick auf die von Ihnen aufgestellten Thesen und Forderungen möchte ich Ihnen die bündnisgrüne Position gerne darstellen.

In Deutschland unterliegen Schutzsuchende und Flüchtlinge einschneidenden Beschränkungen der Bewegungsfreiheit, Ausbildungs- und Arbeitsverboten und diskriminierenden sozialrechtlichen Leistungseinschränkungen. Mit verschiedenen öffentlichkeitswirksamen Aktionen wie der von Ihnen beschriebenen in Berlin wehren sich die Betroffenen gegen behördliche Schikanen und staatliche Ausgrenzung. Die Forderungen der Flüchtlinge nach Abschaffung der Residenzpflicht, des Asylbewerberleistungsgesetzes, des Arbeitsverbotes und des Sachleistungsprinzips sowie einer fairen und zügigen Bearbeitung ihrer Asylanträge finden unsere volle Unterstützung. Diese Forderungen werden von uns seit langem erhoben.

Mit der Residenzpflicht gibt es in Deutschland ein bundesweites und in Europa einzigartiges System der Aufenthaltsbeschränkung, das tief in die Rechte der Flüchtlinge eingreift. Diese sind nicht nur verpflichtet, ihren Wohnsitz in dem ihnen zugewiesenen Gebiet zu nehmen. Vielmehr dürfen sie den ihnen zugewiesenen Aufenthaltsbereich (zum Beispiel den Bezirk der zuständigen Ausländerbehörde) auch nicht verlassen – es sei denn mit einer behördlichen Verlassenserlaubnis für eine kurze Zeit. Diese unnötig restriktive Regelung führt zu einer erheblichen Einschränkung der Freizügigkeit der Betroffenen und oft zu deren weitgehender sozialer Isolation. So wird ihre Teilnahme an kulturellen, politischen und religiösen Veranstaltungen unzulässig eingeschränkt und ihr Zugang zu einer erforderlichen ärztlichen oder psychologischen Behandlung wesentlich erschwert.

Wir fordern die vollständige Abschaffung der Residenzpflicht für Asylbewerber und die Aufhebung der Beschränkungen des Aufenthalts von Geduldeten sowie der damit zusammenhängenden Straf- und Bußgeldvorschriften. Unser Antrag zur Abschaffung der Residenzpflicht wurde von der Koalition jedoch abgelehnt.
Weitere Einschränkungen der Bewegungsfreiheit bringt die von den Bundesländern zu verantwortende Flüchtlingsunterbringung. Für die Dauer des Asylverfahrens werden die Schutzsuchenden einem Bundesland zugewiesen; dort sollen sie sich zunächst in einer „Erstaufnahmeeinrichtung“ aufhalten. Alles Weitere obliegt den Ländern; eine einheitliche Praxis gibt es nicht. Einige Länder, z.B. Bayern, entwickeln jedoch eine bemerkenswerte Kreativität, um die Betroffenen zu entmündigen und ihnen das Leben schwer zu machen. Deswegen ist es kein Zufall, dass der Protest dort am stärksten ist.
Oftmals liegen die Unterkünfte fernab jeglicher Infrastruktur und sind in erbärmlichem baulichem Zustand. Menschen aus unterschiedlichsten Herkunftsländern und Kulturkreisen leben auf engstem Raum und unter schwierigsten Bedingungen zusammen. In jüngster Zeit sind die Kapazitätsgrenzen der Unterkünfte häufig erreicht bzw. überschritten. Und die lange Dauer der Asylverfahren – oft mehrere Jahre - verstärkt die Unsicherheit und Perspektivlosigkeit. Das muss nicht sein, hiergegen kämpfen die Grünen in den Ländern auch bereits seit langem!

In einer bahnbrechenden Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht im Juli bestätigt: Das menschenwürdige Existenzminimum gilt nicht nur für Deutsche, sondern für alle Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes. Abschläge von den Hartz-IV-Regelsätzen für Asylbewerberinnen und –bewerber, Geduldete und Bleibeberechtigte sowie deren Kinder sind nicht zulässig. Die Menschenwürde kann migrationspolitisch nicht relativiert werden.
Allerdings hatte das Bundesverfassungsgericht nur über die menschenrechtlich gebotene Höhe der Leistungssätze zu entscheiden. Andere auf Abschreckung gerichtete Regelungen, wie die drastischen Einschränkungen bei der medizinischen Versorgung und das teure und entwürdigende Sachleistungsprinzip haben weiter Bestand. Wir Grünen fordern daher die vollständige Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes und haben dazu einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht. Die entsprechende Bundesratsinitiative aus Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Bremen und Brandenburg wird von uns nachhaltig unterstützt.
Im ersten Jahr ihres Aufenthalts unterliegen Asylsuchende einem generellen Arbeitsverbot. Auch danach führt das „Vorrangprinzip“ (für fast alle anderen Arbeitssuchenden) dazu, dass sie praktisch vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. Wir setzen uns für einen gleichwertigen Zugang zum Arbeitsmarkt, die Aufhebung von Ausbildungsverboten und die Möglichkeit zur Teilnahme an Sprach- und Integrationskursen ein. Eine schnelle Eingliederung in die hiesigen Lebensverhältnisse ist im Interesse aller.

Auch zügige Asylverfahren sind im Interesse aller – nicht zuletzt der Flüchtlinge selbst – solange sie fair sind. Zu einem fairen Asylverfahren zählen eine unvoreingenommene persönliche Anhörung, die vollständige Aufklärung des Sachverhalts und eine zutreffende Würdigung des Vorbringens durch qualifizierte Entscheider. Daran darf es keine Abstriche geben. Jüngsten Überlegungen des Bundesinnenministers und konservativer Innenpolitiker zur erneuten Verschärfung von Gesetzen erteilen wir eine klare Absage. Innenminister Friedrich ist vielmehr gefordert, die organisatorischen und personellen Voraussetzungen für schnelle und faire Asylentscheidungen im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu treffen.

Einen Entscheidungsstopp für Flüchtlinge aus Staaten mit hohen Anerkennungsquoten, wie beispielsweise Afghanistan, Iran und Syrien lehnen wir ab. Auch darin sind wir uns mit den protestierenden Flüchtlingen einig.

Vielen Dank für Ihr Interesse!

Frauke Roßmann
Mitarbeiterin

Markus Tressel, MdB