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Marieluise Beck
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Frage von Hans-Christian R. •

Frage an Marieluise Beck von Hans-Christian R. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Sehr geehrte Frau Beck!

Ihre Partei hat mich auf Ihre Rede zum Kosovo Polje-Problem im Netz heute aufmerksam gemacht.

Was mir auffällt, ist die Tatsache, daß Sie auf unverzichtbare Aspekte der Problems in Ihrer Rede gar nicht eingehen. Wenn Sie fehlende Redezeit als Grund angeben, dann fällt es mir schwer, dies zu glauben. Denn wenn ich die Länge Ihres Redebeitrags betrachte, so könnten sich alle meine Kritikpunkte kürzer oder länger einbauen lassen.

1. Sie rechtfertigen den Bruch des Völkerrechts zur Vermeidung von Genozid bzw. Vertreibung und zitieren zu Recht den Fall Kambodscha. Aber die Anerkennung einer Unabhängigkeit rechtfertigt den Bruch des Völkerrechts eben nicht, und das ist politisch auch nicht nötig, um Stabilität dort zu erreichen. Gerade das Beispiel Nordirland zeigt, wie unter Einsatz des britischen Militärs nach über 30 Jahren die gewaltätigen Gegner den Weg des Friedens eingeschlagen ohne Sezession. Es geht also doch.

2. Transnistrien wurde übrigens bisher auch nicht anerkannt, genauso wenig Nordzypern. Warum hier also die Eile in der Anerkennung statt geduldiges Weitervermitteln unter Ausschluss der Sezession? Die KFOR ist ja noch auf Jahre hinaus dort tätig, um Ruhe und Ordnung zu sichern.

3. Das K.P. ist das historische Herzstück Serbiens. Wie kann man es ihm wegnehmen, ohne es innerlich zu verwunden? Und das auch noch, nachdem es den Diktator Milosevic vertrieben hat, den Urheber der gewaltsamen Vertreibung der albanischen Kosovaren? Ein mitfühlendes Verständnis für die Serben habe ich in Ihrer Rede nicht entdeckt. Daher wirkt sie kaltherzig.

4. Wie kann man einen Staat a)völkerrechtlich anerkennen, der nicht souverän ist (die oberste Entscheidungsgewalt liegt bei der EU), b) moralisch, der 1. selber Minderheiten vertrieben und ermordet hat (die Roma und Serben), der 2. der erste "Staat " ist, den sich das "organisierte Verbrechen" selber geschaffen (so ein US-Politologe)?

Mit freundlichen Grüßen
Hans-Christian Rump

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Rump,

vielen Dank für Ihre Fragen und Anregungen. Ein fünfminütiger Redebeitrag zwingt jede Politikerin und jeden Politiker zur Fokussierung und Zuspitzung. Die volle Komplexität des Themas Kosovo darzustellen ist in einer solchen Zeit nicht möglich. Gern möchte ich aber an dieser Stelle auf Ihre Bedenken eingehen.

1. Sie sprechen vom Bruch des Völkerrechts. Natürlich ist die Abtrennung eines Teils eines Staatsgebiets problematisch. Aber im Fall Kosovo hat uns das Völkerrecht keine eindeutige Antwort gegeben. Denn aus der UN-Charta geht nicht nur die Pflicht zur Beachtung der territorialen Integrität hervor, sondern auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Dieser Widerspruch lässt sich nicht auflösen, sondern nur im Einzelfall entscheiden.

Die UN-Resolution 1244 vom 10. Juni 1999 bekräftigte die Forderung nach „substantieller Autonomie und tatsächlicher Selbstverwaltung“ des Kosovo, ebenso die „Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Bundesrepublik Jugoslawien“. Dies sollte bis zu einer „politischen Regelung“ gelten und dann in die Übertragung der „Machtbefugnisse“ auf die „im Rahmen einer politischen Regelung geschaffenen Institutionen“ münden. Dies sollte gelten, solange der Sicherheitsrat nichts anderes beschließt. Die Resolution blieb hinsichtlich der Perspektive also unklar und enthielt Interpretationsspielraum. Diese gewollte Unklarheit führte während der Verhandlungen für eine endgültige Statuslösung zum Streit. Russland und Serbien legten die Resolution als Bestätigung der Zugehörigkeit des Kosovo zu Serbien aus, der Westen berief sich auf die politische Zukunftsregelung als Aufforderung zu einer Klärung.

Natürlich hätte ich mir eine verhandelte Lösung gewünscht. Die Entscheidung für die Anerkennung der Unabhängigkeit treffe ich in dem Bewusstsein, dass alles versucht worden ist für eine einvernehmliche Lösung.

Sie meinen, eine Anerkennung sei nicht nötig gewesen für politische Stabilität und führen das Beispiel Nordirland an. Jeder Konflikt hat jedoch seine eigene Genese. Im Fall des Kosovo musste nach meiner Einschätzung eine eindeutige Lösung gefunden werden, um nicht die Stabilität der gesamten Region zu gefährden. Nach jahrelanger Unterdrückung und den Vertreibungen und Verbrechen der 1990er Jahre wollte die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung des Kosovo nicht weniger als die Unabhängigkeit. In Nordirland ist die Situation anders: dort stehen sich zwei fast gleich große Bevölkerungsgruppen in ihren gegensätzlichen Interessen gegenüber.

2. Der Ahtisaari-Plan, der nach langer Vermittlung und ausgiebigen Gesprächen mit beiden Seiten zustande kam und eine eingeschränkte Unabhängigkeit mit weit reichenden Rechten für die serbische Minderheit im Kosovo vorsieht, stellte das best mögliche Verhandlungsergebnis dar. Trotz Vorbehalte hat die kosovarische Seite ihm zugestimmt. Nachdem Serbien seine Zustimmung verweigerte, wurde eine weitere Verhandlungsrunde unter der Troika aus EU, USA und Russland eingeleitet. Verschiedenste Modelle wurden dabei diskutiert und wieder verworfen. Nach Einschätzung des EU-Vertreters Ischinger wurde alles versucht, um zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen.

Sie plädieren für „geduldiges Weitervermitteln unter Ausschluss der Sezession“. Ich bin sicher, dass weitere Verhandlungen nicht nur kein Ergebnis gebracht, sondern die Lage im Kosovo destabilisiert hätten. Nach acht Jahren Schwebezustand, der die wirtschaftliche Entwicklung des Kosovo hemmte und Sprengpotential besaß, war eine eindeutige Lösung notwendig. Das Kosovo sollte eben kein „frozen conflict“ werden wie Transnistrien. Nach meiner Einschätzung waren die Risiken der Beibehaltung des unklaren Status Quo größer als die einer eingeschränkten Unabhängigkeit, wie sie jetzt unter Kontrolle der internationalen Institutionen umgesetzt wird.

3. Deutschland hat wegen des Zweiten Weltkriegs selbstverschuldet einen Teil seiner Gebiete verloren. Es hat lange gedauert, bis Deutschland diesen Verlust offiziell anerkannt und die Gesellschaft ihn akzeptiert hat. Die serbische Reaktion ist verständlich, aber die Lehren aus der Vergangenheit müssen gezogen werden. Denn mit den unter Milosevic begangenen Verbrechen, denen eine lange Vorgeschichte von Repression gegenüber den Kosovo-Albanern vorausging, hat Serbien seinen Anspruch auf das Kosovo verwirkt. Milosevic wurde zwar vertrieben, der aggressive Nationalismus, den er genutzt hat, existiert jedoch nach wie vor. Es gab bisher keine gesellschaftliche Auseinandersetzung und Aufarbeitung seiner Regierungszeit. Aber es gibt in Serbien kritische Stimmen, die sagen, dass Serbien das Kosovo durch Eigenschuld verloren hat. Sie appellieren, endlich die drängenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes anzugehen und sich nicht länger hinter dem Kosovo zu verstecken.

Ich wünsche mir sehr, dass es uns gelingt, Serbien und das Kosovo an die EU heranzuführen, vor allem der jungen Generation den Austausch mit anderen Europäerinnen und Europäern zu ermöglichen und beide Länder bei ihrer zukünftigen Entwicklung zu unterstützen. Gleichzeitig bin ich überzeugt, dass historische Aufarbeitung eine Grundvoraussetzung für Frieden und Demokratisierung ist.

4. Die Unabhängigkeit des Kosovo ist eine überwachte. So war es im Ahtisaari-Plan vorgesehen. Der Ahtisaari-Plan wird jetzt einseitig umgesetzt. Die Kontrolle durch UN, KFOR und EU bleibt notwendig, nicht zuletzt um die Umsetzung des Minderheitenschutzes sicherzustellen. Darin liegt also keine Widersprüchlichkeit, es war von vornherein so angelegt. Natürlich hat es auf beiden Seiten Verbrechen gegeben, auch seitens der Kosovaren gegen Serben und Roma. Verbrechen beider Seiten müssen geahndet werden. Man darf aber nicht vergessen, dass der Ursprung des Konflikts in der jahrelangen Unterdrückung der Kosovo-Albaner liegt. Die kosovarische Führung hat sich einem multiethnischen Kosovo verpflichtet. Man möchte die serbische Minderheit im Land halten und integrieren. Wir müssen sie beim Wort nehmen und uns dafür einsetzen, dass sich auch die Beziehungen zwischen Serbien und dem Kosovo normalisieren und dass sich beide in einer erweiterten EU wiederfinden.

Mit freundlichen Grüßen

Marieluise Beck