Frage an Maria Noichl von Jens W. bezüglich Humanitäre Hilfe
Sehr geehrte Frau Noichl,
ich nehme mit Entsetzen zur Kenntnis, dass an der türkisch-griechischen Grenze Kinder, Frauen und Männer mit Waffengewalt daran gehindert werden, die EU zu betreten und unter katastrophalen Verhältnissen und ohne Zukunftsperspektive im frühen März auf offenem Feld und unter freiem Himmel bleiben müssen. Ich wende mich daher an Sie als meine gewählte Abgeordnete mit der Frage, wie Sie die Situation einschätzen und ob und wie Sie sich dafür einsetzen, dass diese unchristliche und inhumane Vorgehensweise der EU sofort beendet wird und dass die Menschen vor Ort die notwendige Versorgung erhalten sowie die Möglichkeit, ihr Recht auf Asyl wahrzunehmen.
Mit freundlichen Grüßen,
Jens Wehrmann
Sehr geehrter Herr Wehrmann
Neben zum Teil unsäglichen Bedingungen für Flüchtlinge in einigen Mitgliedstaaten erleben wir derzeit an verschiedenen Außengrenzen, wie an der griechisch-türkischen Grenze, erschreckende Entwicklungen mit gewalttätigen Übergriffen.
Viele sprechen von „Flüchtlingskrise“ oder „Migrationskrise“. Das ist falsch. Bereits 2013 sahen wir einen Anstieg von Flucht und Migration nach Europa über das Mittelmeer. Bilder ertrunkener Kinder führten zu Betroffenheit - mehr nicht. Die Regierungen in Europa konnten sich weder auf verbessertes Grenzmanagement noch auf effektivere Aufnahme- und Asylverfahren verständigen. Also geschah nichts. Die Folgen sind Radikalisierung, Abschottung und jetzt die aktuellen Entwicklungen.
Gewalt gegen Schutzsuchende, freiwillige Helfer und Mitarbeiter von NGOs und internationalen Organisationen, wie dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, sowie Journalisten ist schockierend. Lassen Sie mich es deutlich sagen: jegliche gewalttätigen Übergriffe, egal von welcher Seite, sind inakzeptabel. Und wenn Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäische Kommission, während ihres Besuchs in Griechenland diese Gewalt nicht verurteilt, sich stattdessen bei Griechenland als „Schild“ Europas bedankt, ist dies ebenfalls inakzeptabel und rüttelt an den Grundpfeilern unserer demokratischen Werte.
Hingenommen wurde offenbar auch ein Erlass Griechenlands, für mindestens einen Monat keine Asylanträge anzunehmen, Asylbewerber zu inhaftieren und dann ohne Asylverfahren abzuschieben. Griechenland ist, wie alle EU-Mitgliedstaaten, dazu verpflichtet, alle nationalen, EU- und internationalen Gesetze einzuhalten. Dazu gehört die Verpflichtung, Schutzsuchenden legalen Zugang zum Hoheitsgebiet und einem Asylverfahren zu gewähren. Ich stimme deshalb vollkommen mit dem UNHCR überein, dass Griechenland sein Asylsystem nicht aussetzen darf - auch nicht zeitlich begrenzt. Ich erwarte von der Europäischen Kommission, ihren Pflichten als Hüterin der europäischen Verträge nachzukommen und die Umsetzung von geltendem europäischen Recht in Griechenland - wie in allen anderen Mitgliedstaaten - zu garantieren. Ich kann Ihnen versichern, dass ich mich dafür auch weiterhin einsetzen werde.
Die gegenwärtige Situation verschlimmert zudem die Situation auf den griechischen Inseln, auf denen schon seit langer Zeit unmenschliche Zustände existieren. Hier konnte die grundlegende Versorgung mit Essen, Trinkwasser und medizinischer Hilfe ohnehin nicht ausreichend gewährleistet werden. Ich werde deshalb auch weiterhin die EU-Mitgliedstaaten auffordern, sich endlich solidarisch mit Griechenland und seinen Bürgern auf den Inseln zu zeigen und Asylbewerber von den Inseln zu holen. Denn jenseits verbaler Solidaritätsbekundungen fehlt es an praktischen kurzfristigen Angeboten. Viele Mitgliedstaaten haben in der Vergangenheit im Rat ausschließlich abschottende Maßnahmen unterstützt. Dieser Ansatz ist scheinheilig, befeuert rechte Stimmungen und ignoriert die Realität. Denn die kleinen Inseln mit nur geringer Einwohnerzahl beherbergen seit Jahren mehr Flüchtlinge, als z.B. eine Millionenstadt wie Köln in den Jahren 2015 und 2016 aufgenommen hat.
Es braucht deshalb kurzfristig ein Umsiedlungsprogramm, das Griechenland entlastet und Asylbewerber auf die Mitgliedstaaten verteilt. Unbegleitete Minderjährige, Familien und andere schutzbedürftige Personengruppen sollten hier Vorrang haben. Hier müssen die nationalen Regierungen endlich den vielen aufnahmebereiten solidarischen Städten und Gemeinden praktisch ermöglichen, Menschen aufzunehmen. In Deutschland gibt es 140 Städte, die ihre Hilfe angeboten haben und diese Bereitschaft wurde kürzlich nochmal deutlich von Potsdams SPD-Oberbürgermeister Mike Schubert unterstrichen. Diese Hilfsbereitschaft gilt es jetzt zu nutzen und zu ermöglichen.
Langfristig muss eine nachhaltige europäische Lösung für ein gemeinsames europäisches Asylsystem gefunden werden. Auch ein effektives Grenzmanagement muss den Zugang Geflüchteter zum Asylsystem in Europa sicherstellen. Deswegen erwarte ich, dass sich der von Ursula von der Leyen angekündigte Neue Pakt zur Migration an dem Vorschlag des Europäischen Parlaments zu einem solidarischen Verteilungsmechanismus orientiert, den wir 2017 mit Mehrheit beschlossen haben. Auch die Ausweitung des EU-Resettlement-Programms sowie die Vereinheitlichung und Beschleunigung von Asylverfahren und legale Einwanderungsmöglichkeiten gehören zu einem funktionierenden europäischen Asylsystem dazu. Am Ende ist auch richtig: Wer keinen Schutz bekommen kann und aus Ländern ohne politische Verfolgung, Folter oder Krieg kommt, muss wieder rückgeführt werden. Klare Regeln und Perspektiven für legale Zuwanderung in Ausbildung und Beschäftigung sollten hier ebenfalls Klarheit schaffen.
Ich hoffe, dass ich Ihnen mit meiner Antwort helfen konnte.
Mit freundlichen Grüßen
Maria Noichl, MdEP