Frage an Marcus Weinberg von Theda van L. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrter Herr Weinberg,
nach der Lektüre des erschütterndes Buches "Ruhet in Frieden, Soldaten" und nach weiteren Informationen bin ich wie die Mehrheit der Deutschen für eine sofortige Beendigung des Afghanistaneinsatzes. Der Krieg dort ist "Wahnsinn"! Wie werden Sie sich in der Abstimmung im Februar verhalten?
Viele Grüße van Lessen
Sehr geehrter Herr van Lessen,
vielen Dank für Ihre Frage vom 04.12.2010 auf abgeordnetenwatch.de, in der Sie auf den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan eingehen.
Der ISAF-Einsatz wurde vom UNO-Sicherheitsrat am 20.12.2001 einstimmig als Reaktion auf die Anschläge des 11. September beschlossen. Zwei Tage später beschloss der Bundestag mit breiter Mehrheit das Mandat zur deutschen Beteiligung. Der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr wurde seitdem immer wieder durch die Mehrheit des Deutschen Bundestages verlängert.
Die Gründe dafür möchte ich Ihnen gerne benennen. Die Sicherheit und Stabilität Afghanistans wirken sich unmittelbar auf uns aus: Afghanistan darf nicht wieder zu einem gescheiterten Staat werden, von dem aus Terroristen gegen uns agieren können. Ein einseitiger Abzug der Bundeswehr wäre kein Beitrag zur Übergabe in Verantwortung, sondern ein Beispiel für Aufgabe in Verantwortungslosigkeit. Mit einem einseitigen Abzug würden wir auch unsere NATO-Partner, die mit ihrem Einsatz zu unserer Sicherheit beitragen, im Stich lassen. Und er würde die Gefahr für Deutschland nicht verringern, sondern die Terroristen nur zu Anschlägen gegen unser Land ermutigen. Nur wenn Afghanistan stabiler wird und die Menschen dort vom Wiederaufbau des Landes profitieren können, wird die afghanische Regierung sich gegen die Terroristen durchsetzen können. Der Bundeswehreinsatz und die Wiederaufbauhilfe dienen deshalb unseren Sicherheitsinteressen. Der ISAF-Einsatz kann beendet werden, wenn in Afghanistan selbsttragende Strukturen geschaffen sind, die so sicher sind, dass von Afghanistan keine Gefährdung für die Internationale Gemeinschaft ausgeht. Je schneller dieses Ziel mit unserer Hilfe erreicht wird, desto eher kann der militärische Einsatz beendet werden.
Deshalb soll die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte beschleunigt werden: Bis Oktober 2012 sollen statt derzeit 197.000 insgesamt 305.600 Sicherheitskräfte (171.600 Soldaten / 134.000 Polizisten) bereit stehen. Deutschland wird in seinem Verantwortungsbereich Nordafghanistan dafür die Ausbildung von afghanischen Soldaten erheblich ausweiten (1.400 statt 280 Ausbilder) und den Aufbau der Polizei Afghanistans so intensivieren, dass jährlich 5000 Polizisten ausgebildet werden. Wir unterstützen das Ziel der afghanischen Regierung, bis 2014 die Verantwortung für die Sicherheit zu übernehmen. Ein endgültiges Abzugsdatum für die Bundeswehr kann aber heute noch nicht genannt werden.
Unsere Soldaten und Entwicklungshelfer haben in den letzten Jahren Großes geleistet und viel erreicht. Die Hilfe soll dabei sichtbar und fühlbar bei den Menschen ankommen. Vor allem die ländliche Bevölkerung und die Jugend sollen Zukunftsperspektiven erhalten, insbesondere durch die Schaffung von Arbeitsplätzen. Ergänzt wird dies durch den Schutz der Bevölkerung durch militärische Präsenz in der Fläche. So kann das Vertrauen der Bevölkerung in Regierung und Internationale Gemeinschaft erhöht werden. Sicherheit und Wiederaufbau sind zwei Seiten einer Medaille: Keine Sicherheit ohne Wiederaufbau und kein Wiederaufbau ohne Sicherheit. Ziviler Aufbau und Entwicklung, militärische Ausbildung und Schutz der Bevölkerung gehen Hand in Hand.
Deutschland stand von Anfang an in der ersten Reihe des internationalen Engagements in Afghanistan, im zivilen wie im militärischen Bereich: Es war Ausrichter der ersten Wiederaufbau-Konferenz im November 2001 in Bonn, ist der drittgrößte bilaterale Geber für den Wiederaufbau (1,33 Milliarden Euro) und hat das inzwischen erfolgreich etablierte Konzept der „Provincial Reconstruction Teams“ (PRT) entwickelt. Die Erfolge können sich dabei sehen lassen, Deutschland konzentriert sich dabei in Nordafghanistan auf die Bereiche Bildung, Gesundheit, Infrastruktur, Wirtschaftsentwicklung: Wir haben unter anderem zum Bau von 2000 Schulen beigetragen und damit ca. 11.000 neue Schulräume für ca. 25.000 Lehrer und ca. 500.000 Schüler geschaffen. Mit 15 Millionen Euro haben wir zur Zahlung der Gehälter von rund 300.000 Lehrern sowie Richtern beigetragen. Durch unsere Gesundheitsprojekte konnten seit 2006 über 700.000 Patienten behandelt werden, darunter besonders viele Mütter und Babys. 600 Kilometer Straße und zahlreiche Brücken wurden mit deutscher Hilfe gebaut. So helfen wir dringenden Bedürfnissen, wirken zugleich langfristig.
Alle unsere Soldaten, die in Afghanistan Dienst tun, verdienen unsere Solidarität und unser Mitgefühl. Sie leben ständig in Angst, verletzt oder getötet zu werden - damit wir zu Hause in Deutschland nicht diese Angst haben müssen. Diese Verluste dürfen nicht zum Anlass genommen werden, den Einsatz grundsätzlich in Frage zu stellen. Nach Anschlägen auf die Bundeswehr in Afghanistan sollte nicht der innenpolitische Streit dominieren, sondern die Unterstützung für unsere Soldatinnen und Soldaten.
Vor allem aber darf an die Aufständischen in Afghanistan nicht das Signal gesendet werden, dass sie mit dieser Taktik die Verunsicherung in Deutschland erhöhen können. Wenn der Eindruck entsteht, wir würden uns von den Taliban und ihren Verbündeten einschüchtern lassen, dann steigt das Risiko für unsere Soldatinnen und Soldaten. Wir stehen sehr bewusst zum Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten sowie der Polizisten und der zivilen Helfer in Afghanistan. Ihr Einsatz ist gefährlich, aber er dient der Sicherheit unseres Landes.
Auf Grund dieser Erwägungen und der bisherigen Erfolge werde ich auch bei der nächsten Abstimmung für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan stimmen. Denn nur so kann die internationale Staatengemeinschaft mit deutscher Beteiligung den Aufbau Afghanistans voranbringen und nachhaltig gestalten.
Mit freundlichen Grüßen
Marcus Weinberg, MdB