Frage an Marco Bülow von Paul Schulze S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
´Sehr geehrtere Herr Bülow,
herzlichen Glueckwunsch zu Ihrem Artikel in der heutigen Sueddeutschen Zeitung. Welche Folgen erwarten Sie aufgrund dieses systemkritischen Artikels?
Herzliche Gruesse
Paul Schulze Schleithoff
Sehr geehrter Herr Schulze Schleithoff,
vielen Dank für Ihr Schreiben bezüglich der Diskussion über die Fraktionsdisziplin. Mich erfreut hat die fast ausnahmslos positive Resonanz, die ich auf Grund der Artikel im Magazin der Süddeutschen Zeitung (SZ) und der Ruhr-Nachrichten (RN) erhalten habe. Es macht Mut, aus der Bevölkerung und von der Basis so viel Unterstützung zu erfahren. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich nicht jeden Brief individuell beantworten kann, da mittlerweile etwa 100 Mails, Briefe, Telefonate und Faxe diesbezüglich bei mir eingegangen sind. Ich möchte dennoch versuchen, in diesem Antwortschreiben auf die aufgeworfenen Fragen einzugehen. Ich möchte mich aber auch den Kritikpunkten stellen und einige missverständliche Aussagen berichtigen und erklären.
Einige zentrale Punkte vorweg:
Meine Aussagen sind kein Ergebnis von Resignation oder eines konkreten Ereignisses. Nein, im Gegenteil: Insgesamt betrachtet macht mir die politische Arbeit Spaß und ich möchte sie noch möglichst lange fortsetzen. Die vielen positiven Rückmeldungen bestätigen mich, meinen Kurs fortzusetzen. Ich bin Mitte Oktober von meiner Arbeitsgruppe Umwelt (das sind die Bundestagsabgeordneten, die sich in der SPD Fraktion um den Bereich Umwelt kümmern) und der Bundestagsfraktion einstimmig als Umweltsprecher bestätigt worden, was meine Motivation für die Zukunft bekräftigt.
Ich habe das Gespräch mit der SZ, welches die Grundlage für den Artikel war, geführt, weil ich etwas am Zustand des Parlamentarismus verändern möchte und mehr mitgestalten möchte. In einem Brief an meinem Wahlkreis und in Tagebucheinträgen (die auf meiner Internetseite nachzulesen sind) habe ich viele Punkte des Gesprächs bereits angesprochen. Meiner Ansicht nach haben eher die Abgeordnete resigniert, die zwar eine ähnliche Meinung wie ich vertreten, aber aus Angst vor Gegenkritik oder weil sie glauben, solche Äußerungen würden nichts bringen, lieber schweigen.
Ich dagegen möchte offen diskutieren. Ich bin nicht damit zufrieden, möglichst wenig zu kritisieren, nur um ein ruhiges Abgeordnetendasein zu führen. Auch zu anderen Themen und Gelegenheiten habe ich meine Meinung pointiert vorgetragen und werde es auch in Zukunft tun. So habe ich die mangelnde Transparenz der Abgeordneten (bezüglich ihrer Nebeneinkünfte, etc.) kritisiert und auch den problematischen Kurs der SPD in der Großen Koalition thematisiert. Ich bin nur ein Abgeordneter, aber ich glaube dennoch, dass ich das ein oder andere mit in Bewegung gebracht habe. Dazu gehört eine gute Facharbeit, aber eben auch die Überwindung, den Finger in die Wunde zu legen und seine Meinung auch gegen Widerstände zu vertreten. Gerade im Wahlkreis habe ich immer wieder deutlich gemacht, dass ich kein „Jasager“ und „Abnicker“ sein möchte.
SZ-Artikel
Der Artikel wurde nicht von mir verfasst. Ich bin zweimal von einem Journalisten zu diesem Thema interviewt worden. Der Journalist hat den Text verfasst und mit mir danach durchgesprochen. Ich bin natürlich davon ausgegangen, dass der Artikel dann unter seinem Namen erscheint. Ich war überrascht und verärgert, meinen Name über dem Artikel zu finden. Ich stehe zu den Aussagen des Textes, hätte ihn aber selbst anders formuliert und manche Argumentation stärker begründet.
Dazu ein wichtiges Beispiel: Es gibt bei Abstimmungen Druck innerhalb der Fraktionen, das kann auch dazu führen, dass ein Abgeordneter bei abweichenden Stimmverhalten in das Büro des Fraktionsvorsitzenden zu einem Gespräch muss. Diesen Druck gibt es aber in allen Bundestagsfraktionen.
Ich könnte dazu zahlreiche Beispiele gerade auch unseres Koalitionspartners, der CDU/CSU, auflisten. Aber natürlich sollte man als erster vor seiner eigenen Tür kehren, deshalb ist meine Fraktion mein direkter Ansprechpartner. Zudem habe ich darauf hingewiesen, dass das Fraktionsdisziplin durchaus notwendig ist, aber meiner Meinung nach auch bestimmte Grenzen hat (siehe unten: Fraktionsdisziplin). Ich bin davon überzeugt, dass sich ein System zwischen Regierung, Fraktionsspitzen, Medien und Abgeordneten entwickelt hat, das insgesamt die eigentlichen Aufgaben des Parlamentes zu sehr einengt.
SZ-Überschrift
Ich bin sehr verärgert über die von der SZ gewählte Überschrift: „Düstere Aussichten, Fraktionszwang, Druck und Denkverbote: Vor der Afghanistan-Abstimmung verrät der SPD-Mann Marco Bülow, was Bundestagsmitglieder wirklich zu sagen haben: nichts.“ Die Überschrift (wie auch das Foto) ist nicht mit mir abgesprochen worden. Ich bin darüber sehr verärgert, denn die Überschrift überspitzt nicht nur, sondern sie verfälscht meine Aussagen.
Ich habe im gesamten Gespräch in keinster Weise vom Fraktionszwang bezüglich der Afghanistan-Abstimmung und schon gar nicht von irgendwelchen Denkverboten gesprochen. In der SPD-Bundestagsfraktion kann und konnte über dieses Thema frei diskutiert werden. Auch wurde ich wegen meiner Abstimmung bezüglich des Afghanistan-Einsatzes nicht unter Druck gesetzt.
Des Weiteren habe ich nicht gesagt, dass Bundestagsmitglieder nichts zu sagen haben. Viel mehr war meine Aussage, dass MdBs nicht viel oder zu wenig zu sagen haben, was ein deutlicher Unterschied ist.
Die Überschrift erschwert es, dass meine sachliche Kritik durchdringt und ernsthaft diskutiert wird. Genau dies ist und bleibt aber mein Anliegen.
Ruhr-Nachrichten (RN) - Artikel
Ausgehend vom SZ-Artikel führte die Ruhr-Nachrichten (RN) mit mir ein Interview durch, welches am 13. Oktober auf der Seite 2 erschienen ist. Dieses Interview entspricht in etwa dem Wortlaut des Telefongesprächs mit dem RN-Journalisten.
Fraktionsdisziplin
Wie bereits erwähnt, halte ich eine gewisse Fraktionsdisziplin in einer Fraktion für notwendig. Wenn jeder machen würde was er will, hätten wir ein ziemliches Chaos und damit wäre die Politik kaum regierungsfähig. Ich habe häufiger in der Fraktion gegen einen Reformvorschlag gestimmt und mich dann aber im Parlament der Fraktionsmehrheit gebeugt. Es gibt aber Grenzen dieser Disziplin. Dies gilt insbesondere für Bundeswehreinsätze (was von der Fraktionsspitze akzeptiert wird). Meines Erachtens ist diese Grenze ebenfalls erreicht, wenn in Abwägung der Gesamtpolitik einer Regierung ein Abgeordneter zu dem Ergebnis kommt, dass diese insgesamt nicht mehr mit dem Gewissen vereinbar ist. Das sich bei mir aufgebaute Spannungsverhältnis zwischen Fraktionsdisziplin und Gewissensentscheidung habe ich in einem Wortbeitrag der Bundestagfraktion geschildert. Zudem habe ich meine Position in einem Brief an meinen Wahlkreis im Februar 2007 verdeutlicht.
„Ähnlich geht es mir bei den bevorstehenden Abstimmungen zur Rente 67 (2./3. Lesung am 9.3.) und zur Unternehmensteuerreform. Beide Themen haben wir schon kritisch in der Dortmunder SPD diskutiert. Ich werde darauf dringen, dass mein Wahlkreis und die Dortmunder SPD bei den Themen weiter am Ball bleiben und ihre Meinung auch in den Landesbezirk einspeist. Ich werde meine Abstimmung im Bundestag auch von der Meinung der Mehrheit meines Wahlkreises abhängig machen. Denn neben meinem Gewissen und der Fraktionsdisziplin bin ich vor allem auch meinem Wahlkreis und der Basis verpflichtet. Denn ohne Sie wäre ich nicht im Bundestag und ohne die Basis gäbe es auch keine SPD im Bundestag oder in der Regierung.“
Kernpunkt meiner Kritik
Ich kritisiere nicht, dass die Fraktionsspitze versucht, den Laden zusammenzuhalten. Es ist aber problematisch, wenn dies auf Druck, beispielsweise damals durch den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder („wenn ihr nicht mitmacht, dann gehe ich“), oder mit dem Hinweis geschieht, dann verliert der Minister, Parteivorsitzende sein Gesicht. Meiner Ansicht nach müssen Entscheidungen in erster Linie getroffen werden, weil man sie mehrheitlich inhaltlich für richtig hält und nicht, weil eine Person sie vorgibt (und dann nicht mehr zurück kann). Viele Gegenstimmen oder Änderungsvorschläge von Reformvorschlägen der Regierung hat es genau deswegen nicht gegeben.
Zudem kritisiere ich, dass leider einige meiner Kollegen immer mit großen Reden die Vorschläge der Regierung unterstützen und vor Kritik warnen – selbst dann, wenn sie selbst eine andere Meinung vertreten. Die Intention ist offensichtlich: Lobende Abgeordnete haben eine deutlich bessere Chance Karriere zu machen – erst Recht im Vergleich mit den eher kritischeren Mandatsträgern.
Ich weiß, dass ein wachsender Teil der Medien mit dazu beitragen, den Druck zu erhöhen, weil sie bei inhaltlichen Verbesserungen von Regierungsvorlagen im Parlament gerne gleich von „Streit“ oder „nachbessern“ sprechen. Diesem Druck darf man aber nicht nachgeben, denn es ist die Aufgabe des Parlaments, die Regierung zu kontrollieren und sich mit den Vorschlägen und Regierungsentwürfen kritisch auseinander zu setzen. Dafür gibt es die Ausschüsse und Fachgruppen, um mitzugestalten und um Vorlagen bei Bedarf auch zu verändern. Dies ist weiterhin möglich, aber es wird immer schwieriger. Das ist genau meine Kritik – nicht mehr und nicht weniger.
Reaktionen
Fast alle Zuschriften und sonstige Reaktionen aus meinem Wahlkreis waren positiv. Bei meinen Kollegen im Bundestag scheiden sich die Geister. Einige kritisieren mein Vorgehen, andere sprechen mir Mut zu oder bekunden ihre Solidarität. Die SPD-Fraktionsspitze war natürlich nicht begeistert, sie hat bisher aber eher gemäßigt reagiert.
Mehr Transparenz
Ich jedenfalls werde weiter meine Meinung sagen und mich engagieren. Jeder kann auch eine andere Position dazu vertreten. Ich stelle mich gerne jeder Kritik. Die vielen Zuschriften zeigen mir, dass ich einen Nerv getroffen habe. Viele Menschen wünschen sich mehr Transparenz bei den politischen Entscheidungen und größere Einwirkungsmöglichkeiten ihrer vor Ort gewählten Abgeordneten. Auf der anderen Seite erlebe ich aber auch, wie leider nur wenige Bürger versuchen, sich ein differenziertes Bild über die Arbeit von Abgeordneten zu machen. Es herrschen viele Vorurteile und Verallgemeinerungen. Aber gerade deshalb müssen wir Politiker versuchen, durch Transparenz, Informationsarbeit, aber auch durch kritische Selbstanalyse, daran mitwirken unser Bild in der Öffentlichkeit zu verbessern.
Ich hoffe ich konnte Ihnen mit meinem Antwortschreiben ein wenig mehr Hintergrundinformationen liefern und auf einige Fragen eingehen. Für mich ist die Angelegenheit damit aber nicht erledigt. Ich werde mit gleich gesinnten Kollegen überlegen, wie man die Situation verbessern kann. Wenn noch wichtige Fragen übrig geblieben sind, würde ich Sie bitten, nochmals nachzufragen.
Mit freundlichen Grüßen
Marco Bülow