Frage an Marco Bülow von Georg W. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Bülow,
Mit Interesse habe ich einige von Ihren Vorträgen gehört und bei Ihnen eine gewisse Unzufriedenheit mit dem momentanen Demokratiesystem festgestellt. Deswegen würde ich Ihnen gerne eine Alternative vorstellen. Diese stützt sich weitgehend auf die Idee des Publizisten Timo Rieg.
Dieser schlägt vor, den Bundestag abzuschaffen und statt dessen für jeden Gesetzentwurf ca. 700 Bürger und Bürgerinnen auszulosen, die sich fünf Tage in Kleingruppen mit dem Gesetz beschäftigen und dieses dann annehmen oder ablehnen. Die Einflussnahme von Lobbygruppen wäre stark eingeschränkt, es gäbe keinen undemokratischen Fraktionszwang mehr und das Gerangel um Listenplätze wäre auch nicht mehr erforderlich. Doch ich würde noch weitergehen: Es würde weiterhin gewählt und die Parteien schauen nach jeder Wahl (entscheidend wären allein die Prozente) wie sich eine Regierung bilden lässt. Auch die Minister- und Kanzlerposten sollten ausgelost werden. Sollte z.B. das Umweltministerium an die Grünen gehen, würde man z.B. 50 männliche und 50 weibliche grüne Parteimitglieder (oder auch nicht Parteimitglieder), die sich den Job zutrauen und die erforderlichen Fähigkeiten mitbringen, in eine Lostrommel geben und den Posten für vier Jahre verlosen.
Was halten Sie von der Idee?
Mir ist bewusst, dass die Umsetzung Ihren Arbeitsplatz obsolet machen würde,
aber wie ich ebenfalls in Interviews erfahren habe, stehen Sie der Idee des bedingungslosen
Grundeinkommens offen gegenüber;).
Vielen Dank im Voraus für die Beantwortung meiner Frage und
mit freundlichen Grüßen,
Georg Weisfeld
Sehr geehrter Herr W.,
herzlichen Dank für Ihre Frage. Ein interessanter und gleichsam radikaler Vorschlag, das Parlament in seiner jetzigen Form abzuschaffen. Grundsätzlich stehe ich neuen Wegen und Konzepten offen gegenüber – es muss nicht immer alles so bleiben, wie es ist, schon gar nicht, wenn man Probleme oder Handlungsbedarfe identifiziert hat. Es ist gut, wenn wir auch die Strukturen der politischen Entscheidungsfindung immer wieder kritisch beleuchten.
Sofern dieses Konzept darauf abzielt, das Berufspolitikertum zu überwinden – wofür es sicherlich Pro und Contra Argumente gibt – wären sicherlich einige Ideen denkbar, z.B. zunächst die Begrenzung von Amtszeiten. Ihren Vorschlag verstehe ich aber so, dass das Organ der Legislative als festes Organ abgeschafft werden soll. Ein ständiges Gremium mit den Aufgaben, die das Parlament heute hat, würde es nicht mehr geben. Wenn zu jedem Gesetzesentwurf zufällig 700 Menschen zur Entscheidung aufgefordert werden, ist das nach meinem Verständnis kein konsistent bestehendes handlungsfähiges Organ. Für unsere Demokratie ist es aber essentiell, dass es dieses gibt. Mit dem Vorschlag habe ich daher erhebliche Bauschmerzen – und das nicht, weil es mich meinen Job kosten würde, sondern weil ich glaube, dass ein System ohne ständiges Legislativorgan mit Abstand weniger funktionsfähig wäre als das heutige. Lassen Sie mich erläutern, warum:
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, soll das Parlament in der Theorie ersatzlos abgeschafft werden. Gesetzesentwürfe könnten nach diesem Modell nur in Ministerien oder im Bundesrat erarbeitet werden. Eine Initiative könnte also nur dann vorangetrieben werden, wenn die Regierungen (des Bundes oder der Länder) es als Priorität behandeln. Solche Beschlüsse wie die „Ehe für alle“ wären dann nicht möglich gewesen. Das kann m.E. nicht wünschenswert sein. Mit dem Bundestag haben wir ein von den Bürgerinnen und Bürgern legitimiertes Organ, welches auch Initiativen erarbeiten kann.
Darüber hinaus fehlt mir in dem Konzept der Blick für die Kontrollfunktion des Parlaments. Der Bundestag hat die Aufgabe, die Regierung in ihrem Handeln zu kontrollieren – es geht nicht nur darum, Gesetzesentwürfe zu verabschieden. So kann der Bundestag nicht nur einzelne Entwürfe ablehnen, sondern z.B. auch Untersuchungsausschüsse einleiten oder der Kanzlerin oder dem Kanzler das Misstrauen aussprechen, wie es in der deutschen Geschichte auch schon vorgekommen ist. In dem von Ihnen vorgeschlagenen Modell bekäme die Regierung noch mehr Macht. Das halte ich nicht für richtig. Bereits heute wünsche ich mir mehr Einfluss des Parlaments gegenüber der Regierung.
Des Weiteren sind beispielsweise prozessuale Kompetenzen an den Bundestag geknüpft. Beispielsweise können Bundestagsfraktionen bestimmte Klageverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht in Anspruch nehmen. Auch das wird häufig genutzt – beispielsweise in abstrakten Normenkontrollverfahren, wenn Bundestagsfraktionen vom Bundesverfassungsgericht überprüfen lassen möchten, ob ein Gesetz verfassungswidrig ist. Dieser Rechtsschutz ist essentiell. Ein einzelner Bürger oder eine einzelne Bürgerin ist eben nicht in allen Belangen und in allen Verfahrensarten klageberechtigt und möglicherweise auch nicht in der Position, diesen anstrengenden Weg zu gehen. In dem von Ihnen genannten Modell gäbe es schlichtweg massiv weniger Kontrolle der Exekutive, das kann nicht richtig sein.
Auch denke ich, dass eine rein zufällige Auswahl der Entscheider und Entscheiderinnen in vielen Fällen nicht die Mischung an Meinungen geben würde, die wünschenswert ist. Dass wir in Deutschland unsere Politiker und Politikerinnen wählen, ist ja nicht sinnfrei. Durch unser Verhältniswahlrecht ist gewährleistet, dass die Entscheidenden 1:1 in dem Verhältnis ausgewählt sind, wie es die Bürgerinnen und Bürger wollen. Damit repräsentiert das Parlament die Bürgerinnen und Bürger schon sehr gut. Bei einer zufälligen Auswahl ist es wahrscheinlich, dass die entscheidende Gruppe die Menschen nicht ausgewogen repräsentiert. Auch das kann für eine Demokratie nicht wünschenswert sein.
Ich halte es für zwingend notwendig in einer Demokratie, dass die Menschen einen Einfluss darauf haben, wer Entscheidungen trifft. Das macht den Kern von Demokratie aus, denn schließlich geht alle Gewalt (mittelbar) vom Volke aus. Zufällig besetzten, für 5 Tage tagenden, Gremien mangelt es m.E. an demokratischer Legitimation. Aktuell ist es so, dass die Menschen unsere Politikerinnen und Politiker auch abwählen können, wenn sie mit deren Arbeit nicht zufrieden sind. Diese Option gäbe es bei zufällig besetzten Gremien nicht. Bürgerinnen und Bürger hätten keine Möglichkeit, die Entscheidenden zur Verantwortung zu ziehen; Entscheidende müssten nicht so handeln, dass sie an ihren Entscheidungen gemessen werden.
Außerdem möchte ich anmerken, dass einige Sachverhalte tatsächlich so kompliziert sind, dass sie nicht ohne Weiteres in 5 Tagen nachvollzogen werden können, wenn man damit noch nie in Kontakt war. Das ist bei der heutigen Regelungsfülle auch vollkommen selbstverständlich. Nehmen wir beispielsweise steuerrechtliche Regelungen und den Cum-Ex-Skandal. Selbst unter den Finanzpolitikerinnen und –politikern, die sich täglich mit solchen Fragen auseinandersetzen, gibt es viele, die die genauen Abläufe nicht nachvollziehen können. Selbst Personen, die seit 20 Jahren als Expertinnen oder Experten in dem Bereich arbeiten, haben teilweise Probleme, die Sachverhalte im Detail zu verstehen und entsprechende Lösungen zu entwickeln.
Nun könnte man argumentieren, dass es dann ja keinen Unterschied mache, wer über solch schwierige Gesetzesentwürfe entscheidet. Ich denke aber, dass Menschen, die regelmäßig in entsprechenden Ausschüssen arbeiten, dadurch bereits einen gewissen Zugang zur Thematik haben, sich dadurch im Zweifel schneller einarbeiten und dabei (hoffentlich) alle relevanten Aspekte erfassen können, vielleicht eher in der Lage sind, Themen zu bewerten. Eine gewisse Spezialisierung ist sicherlich hilfreich, bessere Entscheidungen zu treffen. Dazu möchte ich unterstreichen, dass natürlich nicht jedes Anliegen eine derart hohe Expertise erfordert. Einige Anliegen kann sicher jeder Mensch allein aus seiner alltäglichen Erfahrung und seinem Wertegerüst heraus bewerten, keine Frage.
Widersprechen muss ich Ihnen auch dahingehend, dass dieses Verfahren den Einfluss von Lobbygruppen stark einschränken würde. In der Tat ist der Einfluss von Lobbyistinnen und Lobbyisten in den Ministerien am größten, da dort die meisten Gesetzesentwürfe geschrieben werden. Das Parlament ist zwar ein Anlaufpunkt für die Lobbygruppen, jedoch darf man nicht unterschätzen, dass der Bärenanteil in der Regierung stattfindet. Meiner Erfahrung nach finden Lobbygruppen immer auch einen Weg zu Entscheidungsträgern. Um Lobbyismus transparent zu machen und einzugrenzen, schlage ich deshalb andere Wege vor, beispielsweise die Einführung eines legislativen Fußabdrucks. Da könnte man bei jeder Regelung nachvollziehen, wer wie Einfluss genommen hat.
Ein ganz praktisches Argument – wenn auch nicht mein zentrales – wäre auch der Aufwand, den es bereiten würde, zu jedem einzelnen Gesetzesentwurf 700 Bürgerinnen und Bürger auszulosen, diese zu informieren, die Termine zu planen, die Anreise aus der ganzen Republik zu ermöglichen, die Unterkunft sowie Räumlichkeiten für 5 Tage zu organisieren, die finanzielle Entschädigung für die Teilnehmenden zu verwalten, etc. Auch wäre es möglich, dass zu bestimmten Themen seitens der Bürgerinnen und Bürger kein Interesse besteht, sich dafür von der Arbeit frei zu nehmen, den Urlaub abzubrechen, die Kinder oder die kranken Eltern allein zu Hause zu lassen, den Geburtstag der Schwester oder die Hochzeit des Bruders zu verpassen oder ähnliches.
Ein anderes praktisches Argument: Ich glaube, es ist unrealistisch, dass so ein Modell überhaupt in Erwägung gezogen wird. Man hat allein anhand der Debatte um die Minderheitsregierung erkannt, dass neue Ideen es schwer haben.
Nicht zuletzt wäre auch unsere Verfassungsordnung nicht mit diesem Modell vereinbar. Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes haben wohlüberlegt die heutigen staatlichen Organe als ein System aus sich gegenseitig kontrollierenden und ergänzenden Organen angelegt. Sie haben das heutige Modell insbesondere nach den Lehren, die uns die deutsche Geschichte mit auf den Weg gibt, entwickelt. Dabei gelten insbesondere verschiedenen Zuständigkeiten von Legislative, Exekutive und Judikative, die klare Teilung der Gewalten und gegenseitige Kontrolle sowie auch unterschiedliche Legitimationswege. Das alles gehört zum Demokratieprinzip, wie es der Art. 20 des Grundgesetzes definiert.
Solche zentralen Staatsstrukturprinzipen können sinnvoller Weise auch nicht geändert werden. Dafür sind sie in Art. 79 des Grundgesetzes in der sog. Ewigkeitsklausel unter Garantie gestellt. Selbst wenn es also den Vorschlag geben würde, das von Ihnen vorgeschlagene System einzuführen, was freilich vom Bundestag mit 2/3 Mehrheit beschlossen werden müsste, würde allerspätestens das Bundesverfassungsgericht einen solchen Beschluss aller Wahrscheinlichkeit nach kippen. Unsere Verfassungsordnung sieht eine derartige Abkehr vom zentralen Identifikationsgehalt des Grundgesetzes schlichtweg nicht vor.
Zuletzt möchte ich noch ergänzen, dass ich zwar Kritiker so mancher heutigen Praxis bin, aber auch die großen Pluspunkte unseres Systems schätze. Das eigentliche Zusammenspiel der Organe in unserer Demokratie ist wohl überlegt. Dass so manches in der Praxis nicht rund läuft, stimmt dennoch. Aus dem Grund schlage ich Verbesserungen vor. Ich stehe hinter der parlamentarischen Demokratie, wünsche mir aber auch Ergänzungen, z.B. eine Stärkung der Rolle des Parlaments. Ich trete beispielsweise ein für die Einführung eines verbindlichen Abgeordnetenkodex, für stärkere Lobbyregulierung und für eine basisdemokratischere Handhabe innerhalb der Parteien. Auch denke ich, dass eine Minderheitsregierung ein geeignetes Projekt wäre, um das Parlament wieder mehr zum Leben zu erwecken und dem „Abnicken“ im Bundestag zu begegnen. Konkrete Vorschläge zur Stärkung des Parlaments finden Sie auf meiner Homepage www.marco-buelow.de.
Beste Grüße
Marco Bülow