Frage an Ludwig Stiegler von Miranda M. bezüglich Recht
Sehr geehrter Herr Stiegler,
der katholisch kontrollierte und überaus bekannte Kölner Radiosender "Domradio" verbreitet folgende Meldung:
"Der scheidende Trierer Bischof Reinhard Marx sieht die Religionsfreiheit in Deutschland vor neuen Herausforderungen. Einerseits müsse die Religionsfreiheit strikt beachtet, andererseits müssten die "unterschiedlichen Beiträge" der Religionsgemeinschaften zur Kultur und Gesellschaft auch wahrgenommen werden, sagte Marx am Freitag bei einem Fachgespräch in Berlin. Die frühere Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) wies in der Debatte auf die globalen Probleme hin, Religionsfreiheit durchzusetzen.
Dabei sei besonders problematisch, dass der Religionswechsel nicht überall anerkennt werde und teils sogar lebensgefährlich sei. In Deutschland sei die Frage der Religionsfreiheit zunehmend in europäische Entscheidungen eingebunden. So habe etwa der Europäische Gerichtshof [EGMR] im April 2007 erklärt, dass Scientology den Schutz der Religionsfreiheit und Vereinigungsfreiheit genieße. ..."
http://www.domradio.com/aktuell/artikel_37855.html
Das ist eine eindeutige Aussage, die ich noch mal wiederholen möchte, um anschließend meine Frage zu stellen:
"In Deutschland sei die Frage der Religionsfreiheit zunehmend in europäische Entscheidungen eingebunden. So habe etwa der Europäische Gerichtshof im April 2007 erklärt, dass Scientology den Schutz der Religionsfreiheit und Vereinigungsfreiheit genieße."
Sie sind Jurist und können deshalb etwas mit der Materie anfangen. Daher wende ich mich auch an Sie. Hier nun die Frage:
Wenn das höchste Europäische Gericht, der EGMR, der u. a. für die Überwachung der Religionsfreiheit in den 46 Mitgliedsstaaten zuständig ist (Religionsfreiheit = Menschenrecht), die Scientologen klar als Religionsgemeinschaft anerkannt hat, wie selbst die Katholische Kirche zugibt, wieso darf dann ein "Verfassungsschutz" weiterhin die den Schutz des EGMRs geniesende Scientology bespitzeln und als "keine Religion" verleumden?
Sehr geehrte Frau Marley,
bei der Frage, ob die Scientology-Organisation vom Verfassungsschutz beobachtet wird, geht es nicht um Religionsfreiheit, sondern darum, ob die Zielsetzungen und Vorgehensweisen einer Organisation in Einklang mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen. Verfassungsfeindliche Zielsetzungen rechtfertigen die Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Erst am 12. Februar 2008 hat das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen in Münster entschieden, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz Scientology in Deutschland weiterhin beobachten darf. In der Urteilsbegründung wurde ausgeführt, dass tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass Scientology nach wie vor Bestrebungen verfolge, die gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtet seien. Dass Scientology sich als eine Kirche oder Religionsgemeinschaft versteht, spielt für diese Entscheidung keine Rolle. Damit unterlag Scientology auch in zweiter Instanz mit dem Versuch, die seit 1997 andauernde, nachrichtendienstliche Überwachung verbieten zu lassen.
In Ihrer Mail beziehen Sie sich auch auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 5. April 2007. Leider geben Sie diese nicht korrekt wieder. Besagte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte befasste sich nämlich nicht mit einer allgemeinen Prüfung des Religionsgemeinschaftsstatus der Scientology-Organisation im Sinne des Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), sondern mit der konkreten Lage der "Church of Scientology Moscow". Diese ist nach russischem Recht seit 1994 als religiöse Gemeinschaft auf nationaler Ebene anerkannt. Das Urteil des Gerichtshofs beschäftigte sich lediglich mit der Ablehnung der Registrierung von Scientology durch die russischen Behörden. Die rechtsfehlerhafte Versagung der Registrierung, so stellte das Gericht fest, verletzte im konkreten Fall vor dem Hintergrund der russischen Rechtslage die im Art. 11 EMRK gewährleistete Vereinigungsfreiheit. Eine Prüfung der Voraussetzungen einer Religionsgemeinschaft im Sinne des Art. 9 EMRK hat nicht stattgefunden.
Mit freundlichem Gruß
Ludwig Stiegler