Herr Lotz, Sie formulieren als ein politisches Ziel: "für eine Justiz, in der die soziale Frage kein blinder Fleck ist". Was heißt das? Wollen Sie in die Unabhängigkeit der Justiz eingreifen?
Sehr geehrter Herr K.,
selbstverständlich will ich nicht in die Unabhängigkeit der Justiz eingreifen. Die Unabhängigkeit der Justiz ist ein hohes Gut. Jeglichen Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz haben wir uns geschlossen und entschieden entgegenzustellen, insbesondere im Hinblick auf unsere historische Verantwortung bezüglich der Justiz im Nationalsozialismus!
Innerhalb der Justiz gibt es aber insbesondere in Bezug auf die sogenannten Armutsdelikte blinde Flecken.
Ich möchte hier mal ein paar Beispiele nennen:
Während bei Betrug von Sozialleistungen im dreistelligen Bereich regelmäßig eine Verurteilung erfolgen würde, würde eine Steuerhinterziehung in derselben Höhe in der Regel eingestellt werden.
Die Möglichkeit, eine Untersuchungshaft durch Hinterlegung einer Kaution abzuwenden, ist in der Regel mittellosen Menschen nicht möglich, da sie die dafür nötigen Beträge nicht aufwenden können.
Die Geldstrafe bemisst sich durch die Tagessatzhöhe auch an der Höhe des Einkommens. Sollte die angeklagte Person keine Angaben zum Einkommen machen, muss dieses geschätzt werden. Dies führt häufig dazu, dass die Einkommen für mittellose Menschen gerne mal zu hoch und für reiche Menschen wiederum zu niedrig angesetzt werden.
Durch den Straftatbestand des Fahrens ohne Ticket (im Gesetz als Erschleichen von Leistungen benannt) sind insbesondere Menschen betroffen, die sich kein Ticket leisten können. So beträgt der derzeitige Bürgergeldsatz für den Verkehr 45,02 €. Das 49€-Ticket wird sich also ein Bürgergeldbezieher nicht leisten können!
Oder um es noch weiter zu verdeutlichen:
Ein Monatsticket innerhalb der Frankfurter Innenstadt kostet 97,90 € und würde damit mehr als das Doppelte kosten, als der Bürgergeldsatz für die Verkehrsnutzung!
Die hessische Landesregierung hat zwar für mittellose Menschen ein Sozialticket für 31 € eingeführt. Allerdings halte ich das immer noch für zu teuer in Hinblick darauf, dass in Berlin das Sozialticket lediglich 9 € kostet. Ebenso sorgt das Abo-Modell des Sozialtickets dafür, dass man sich langfristiger binden muss.
Die Abschaffung des Straftatbestands des Fahrens ohne Ticket ist daher absolut notwendig, da die Justiz an die Gesetze gebunden ist, die der Gesetzgeber ihr gegeben hat!
Zwar werden Menschen wegen Fahrens ohne Ticket in der Regel nicht gleich zu einer Freiheitsstrafe sondern zu einer Geldstrafe verurteilt. Dies führt aber zu ganz anderen Problemen. Denn wenn die Geldstrafe nicht bezahlt wird, wird die sogenannte Ersatzfreiheitsstreife angeordnet. Das heißt, dass der Verurteilte die Anzahl der Tagessätze in einem Gefängnis absitzen muss. Der ursprüngliche Gedanke hierbei war, dass man zahlungsunwillige Menschen mit der Ersatzfreiheitsstreife dazu anhalten wollte, dass sie gefälligst ihre Geldstrafe bezahlen.
Diesem Gedanken wird die heutige Realität allerdings nicht mehr gerecht. Es müssen meistens die Menschen die Ersatzfreiheitsstreife antreten, welche die Geldstrafe nicht zahlen können!
Mal ganz davon abgesehen, dass im Gefängnis einsitzen ein deutlicher Bruch der eigenen Lebensbiografie darstellt, ist auch für unsere Gesellschaft die Ersatzfreiheitsstreife in finanzieller Hinsicht fragwürdig.
Der Freiheitsfonds - eine Organisation, die die Geldstrafe wegen solchen Delikten für mittellose Menschen bezahlt - hatte mal ausgerechnet, dass jeder Euro, der genutzt wird, um eine Geldstrafe zu zahlen, dem Staat 10 € sparen würde.
Wie kann man nun auf Landesebene dem entgegenwirken?
Die Möglichkeiten auf Landesebene sind hier leider etwas eingeschränkt, da einige Gesetzesänderungen - wie etwa die Änderung von Strafgesetzen - Sache des Bundes sind. Was aber nicht heißen soll, dass man gar nichts bewirken kann. Da auch der Bundesrat Gesetze in den Bundestag einbringen kann, könnte man etwa die Abschaffung des Straftatbestands für Fahren ohne Ticket durch den Bundesrat veranlassen.
Da die Staatsanwaltschaften weisungsgebunden sind, könnte man diese dazu anhalten bei Bürgergeldbeziehenden eine Tagessatzhöhe von 5 € anzusetzen wie es etwa in Berlin angeordnet wurde. Das würde die Problematik zwar nicht beseitigen, aber zumindest etwas Abhilfe schaffen.
Man könnte die Staatsanwaltschaften auch dazu anhalten, dass bei einschlägigen Armutsdelikten wie etwa dem Fahren ohne Ticket keine Strafbefehle ergehen sollen. Im Strafbefehlsverfahren bekommt der Richter den Angeklagten nicht einmal zu sehen, solange der Angeklagte keinen Einspruch einlegt. Besonders Menschen, die mit behördlicher Post überfordert sind und keine Briefe von Behörden mehr öffnen, sind daher benachteiligt. Bei einer Hauptverhandlung kann der Richter den Angeklagten in Augenschein nehmen um die Haftfähigkeit zu prüfen. Die Haftfähigkeit wäre z. B. bei einer etwaig bestehenden Drogenabhängigkeit nicht gegeben.
Man könnte auch dafür Sorge tragen, einen kostenlosen Nahverkehr einzuführen, damit man gar nicht mehr ein Ticket kaufen müsste.
Ich hoffe, ich konnte Ihnen mit meiner Antwort weiterhelfen.
Herzlichste Grüße
Konstantin Lotz