Frage an Klaus Lederer von Nicole M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Lederer,
in der Schweiz haben in einem Volksentscheid über 70% für eine Verschärfung der Asylgesetze gestimmt, was nun scheinbar auch die No-Go-Areas für Asylsuchende zur Folge hat, wie sie schon die Juden und Jüdinnen in Deutschland erfahren mussten. Sind Sie wirklich der Meinung, dass eine zumindest tendentiell rassistische Mehrheit (psychologisch gesehen haben die meisten Menschen zunächst Angst vor dem Fremden und Anderartigen) entscheiden sollen darf und damit die Demokratie und Verwirklichung der Menschenrechte besser wird?
Zu den gemeinsamen Schulen: ich möchte, dass mein Kind neben deutsch auch in seiner französischen Muttersprache unterrichtet wird. Das ist naturgemäß nicht an allen Schulen möglich und sinnvoll. Auch gibt es nicht in jeder Schule die Schwerpunkte, die die sehr unterschiedlichen Begabungen, in deren Richtung die Kinder streben, fördern können. Halten Sie wirklich eine Einheitsschule für die beste Lösung?
MfG, L. Malik Dipl.-Psychologin
Sehr geehrte Frau Malik,
ich bin der Überzeugung, dass vor rassistischen Grundstimmungen auch Parlamente nicht gefeit sind. Parlamente, bzw. die in ihnen vertretenen Abgeordneten, sind nicht schlauer, als es die Bevölkerung ist. Sicher, auch reaktionäre Themen könnten mit Volksentscheiden auf die Tagesordnung gesetzt werden. Das tun aber politische Parteien möglicherweise auch. Den "Asylkompromiss" von 1993, also die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl, haben Bundestag und Bundesrat jedenfalls ganz ohne Volksentscheide beschlossen. Lange Rede, kurzer Sinn: direkte Demokratie ist ein Mittel. Sie garantiert weder Fort- noch Rückschritt als Automatismus. Aber ich glaube trotzdem, dass direkte Demokratie als ein Mittel neben der repräsentativen Demokratie ihren Platz hat und haben sollte. Es wird Zeit, dass es Volksentscheide auch auf Bundesebene gibt.
Zum Thema Schule: Ich will keine Einheitsschule. Es soll nach meiner Vorstellung keine Schule geben, in der monoton alle Schülerinnen und Schüler das Gleiche treiben und das Gleiche lernen. Im Gegenteil: ich finde es für das Bildungssystem befruchtend, wenn neben den Kernfächern, in denen allerdings tatsächlich bundesweit vergleichbare Standards existieren sollten, eine große Bildungs- und Profilvielfalt herrscht. Das kann naturwissenschaftlich, humanistisch, sprachlich ausgestaltet werden und vieles andere mehr. Auch ein gutes außerschulisches Freizeitangebot und Entfaltungsmöglichkeiten gehören in diese Ganztagsschulen. Sie müssten sich also in dieser Frage keine Sorgen machen. Auch das finnische Schulsystem kennt beispielsweise keine "Einheitsschule". Worauf es mir ankommt: ich wünsche mir, dass alle Kinder und Jugendlichen in einem Schultyp, nämlich der Gemeinschaftsschule, miteinander so lange wie möglich (und auch voneinander) lernen und die frühe Fachleistungsdifferenzierung abgeschafft wird. Es ist erwiesenermaßen ein inkusiveres Schulsystem mit besseren Bildungschancen und Bildungsergebnissen, wenn allen Schülerinnen und Schülern potenziell die Möglichkeit gegeben wird, bis zum Abitur miteinander zu lernen. Die frühe soziale und Elitendifferenzierung im deutschen Bildungssystem ist aus Kaisers Zeiten, überkommen und bietet zwar einem Teil gute Lernerfolge, hängt aber die meisten Schülerinnen und Schüler ab. Um die Verwechslung zu vermeiden, spreche ich auch nicht von "Einheitsschulen", das tun diejenigen, die den Gedanken des längeren gemeinsamen Lernens denunzieren wollen. Sondern ich spreche von Gemeinschaftsschulen in Bildungsvielfalt. Sie sind die Zukunft.
Ich hoffe, dass ich Ihnen damit erschöpfend Auskunft geben konnte. Mit freundlichen Grüßen,
Klaus Lederer