Frage an Klaus Hänsch von Andrea B. bezüglich Wirtschaft
Wie kann in Europa soziale Gerechtigkeit aufgebaut werden, wenn sich die Länder gegenseitig durch Dumping-Löhne die Arbeitsplätze wegnehmen? Verschärft der Vertrag von Lissabon dieses Problem nicht noch? In ihm wird neoliberale Politik festgeschrieben. Und kein Bürger hier in Deutschland hat die Möglichkeit darüber abzustimmen und diskutiert wird darüber auch nicht.
Sehr geehrte Frau Binding,
wie Sie richtig anmerken, ist die soziale Dimension der Europäischen Union (noch) unterentwickelt. Das ist mit der Geschichte der europäischen Integration zu erklären, die zu Beginn vor allem die Schaffung eines gemeinsamen Marktes zum Ziel hatte.
Dennoch ist die Union zunehmend auch eine Sozialunion - und das nicht zuletzt gerade dank dem Vertrag von Lissabon. Über eine sog. "Querschnittsklausel" sorgt er dafür, dass soziale Aspekte bei allen EU-Initiativen politikbereichübergreifend berücksichtigt werden müssen.
Der Vertrag von Lissabon schreibt betont das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft als zentrales Ziel der Europäischen Union. Auch die Charta der Grundrechte, die mit In-Kraft-Treten des Lissabon-Vertrags rechtlich verbindlich wird, garantiert den Bürgerinnen und Bürgern der EU bestimmte soziale Grundrechte. Ob in der Union "neoliberale" oder soziale Politik gemacht wird, hängt von den Mehrheiten ab, die die Wähler in das Europäische Parlament und in die nationalen Parlamente wählen.
Lohndumping und Arbeitsplatzkonkurrenz können durch die Einführung von flächendeckenden Mindestlöhnen in den Mitgliedstaaten verhindert werden, in 20 EU-Mitgliedstaaten gibt es bereits gesetzliche Mindestlöhne, in anderen Ländern sorgen tarifliche Vereinbarungen für Schutz vor Lohndumping. Deutschland hat auf diesem Gebiet klaren Nachholbedarf, die Festsetzung von Mindestlöhnen liegt in nationaler Verantwortung, nicht bei der EU. Die SPD setzt sich für Mindestlöhne in Deutschland ein.
Der EU-Reformvertrag ist seit dem 15. April unter folgendem Link öffentlich für jedermann zugänglich:
http://www.consilium.europa.eu/showPage.asp?lang=de&id=1296&mode=g&name=
Der durch den Reformvertrag geänderte Text des Vertrags von Nizza ist schon seit Dezember 2007 öffentlich zugänglich. Leider haben die Medien und die Bürgerinnen und Bürger diese Chance zur öffentlichen Debatte nicht voll genutzt.
Die EU ist kein Staat, sondern eine Union von Staaten. Aus diesem Grund entscheidet jeder Mitgliedstaat gemäß den Regeln seiner eigenen Verfassung über die Annahme des Vertrags von Lissabon. In der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland (wie übrigens auch in den Verfassungen einer ganzen Reihe anderer Staaten) sind Volksabstimmungen nicht vorgesehen. Deutschland ist eine parlamentarische Demokratie, in der die Bürger das politische Geschehen über die von ihnen gewählten Repräsentanten beeinflussen.
Mit freundlichen Grüßen
Klaus Hänsch