Frage an Klaus Hänsch von Aljoscha C. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
„Würde sich die EU bei uns um Beitritt bewerben, müssten wir sagen: demokratisch ungenügend“ - Günter Verheugen
Sehr geehrter Herr Hänsch,
die durchaus berechtigte Frage von Herrn Albrecht hinsichtlich der Legitimität der Europäischen Union wurde meines Erachtens allzu leichtfertig abgetan.
Die Existenz eines Demokratiedefizits ist in der Wissenschaft unumstritten. Unklar ist nur: Wie ist eine Demokratisierung jenseits des Staates möglich?
Auch wenn die von Herzog genannte Prozentzahl - bzgl. des EU-Anteils an der Gesetzesprechung - einer Fundierung bedarf, ist nicht zu bestreiten, dass ein großer Teil der Gesetze die unser tägliches Leben beeinflussen in Brüssel gemacht werden.
Selbst wenn die im Vergleich zu nationalen Parlamenten erkennbare Schwäche des Europäischen Parlaments außer acht gelassen wird ergeben sich hier Probleme, die von einer zufriedenstellenden Situation weit entfernt sind. Zu nennen ist z.B. der „Umgekehrte Regionalismus“, welcher eine Senkung des Gewichts Individueller Mitbestimmung und die stärkere Distanzierung der politischen Führung vom regierten Volk bewirkt.
Das fehlen intermediärer Strukturen ist ein weiterer Aspekt, der zu berücksichtigen ist, wenn über Demokratie im Zusammenhang mit der EU gesprochen wird. Es gibt keine europäische Öffentlichkeit, keine europäischen Medien und keine europäischen Parteien. Bei einer Europawahl werden nationale Parteien aufgrund nationaler Wahlkämpfe und dementsprechend auch nach nationalen Prämissen gewählt. Gleiches gilt für die staatlichen Exekutiven, denen innerhalb der EU-Entscheidungsprozesse eine wichtige Rolle zukommt. Das ist demokratietheoretisch sehr bedenklich.
Hinzu kommt, dass bei Europawahlen die Stimme eines Luxemburgers mehr zählt als die eines Deutschen.
Ich könnte ewig so weitermachen, da die Legitimitätsprobleme der EU zahlreich sind.
Trotzdem bin ich EU-Fan und würde daher gerne Wissen: Interessiert das Demokratiedefizit die EU-Politiker oder wird es als nebensächlich abgetan?
MfG
A.C.
Sehr geehrter Herr Carroll,
natürlich interessiert und beschäftigt mich das Demokratiedefizit. Seit meiner Wahl ins Europäische Parlament im Jahr 1979 versuche ich dazu beizutragen, es abzubauen.
Dazu zunächst eine grundsätzliche Bemerkung: Die EU ist kein Staat, sondern eine Union von Staaten. Aus diesem Grund ist es falsch, von der EU die gleichen Strukturen und Verfahren zu verlangen, wie von den Nationalstaaten. Es geht nicht darum, "ob" eine demokratische Legitimation jenseits des Nationalstaates möglich ist, sondern, wie Sie zu Recht schreiben, "wie" sie möglich ist.
Weil es kein europäisches Volk gibt und die EU eine Staatenunion ist, folgt daraus, dass die demokratische Legitimation der EU-Rechtsetzung auf zwei Säulen ruhen muss: Auf dem von Bürgern direkt gewählten Europäischen Parlament und auf dem Rat, der aus den demokratisch gewählten Regierungen der Mitgliedstaaten besteht. Daraus ergibt sich auch, dass die Formen der repräsentativen Demokratie, d. h. die Mitwirkung des Volkes über Parlamente, geeigneter sind als plebiszitäre Elemente, die im Grunde nur für die Entscheidung über Beitritt oder Austritt eines Landes in Frage kommen können.
Ein Teil des sog. "Demokratiedefizits" bestand seit den Anfängen der EU darin, dass das Europäische Parlament zunächst so gut wie keine Entscheidungsrechte hatte. Dieses Defizit verschwindet allmählich. Heute entscheidet das Parlament über rund 60% der EU-Gesetze gleichberechtigt mit dem Rat. Wenn der Reformvertrag von Lissabon ratifiziert ist, werden es fast 100% der verabschiedeten Gesetze sein. Darüber hinaus wird mit dem Reformvertrag die Möglichkeit eines Bürgerbegehrens eingeführt.
Ein anderer Teil des Demokratiedefizits liegt zweifellos in dem von Ihnen erwähnten Mangel an intermediären Strukturen. Es gibt diese Strukturen zwar, aber sie sind ganz gewiss noch unzureichend. Immerhin zeigt sich hin und wieder durchaus eine europäische Öffentlichkeit. Z. B. bei den europaweiten Protestaktionen gegen die Wiederaufnahme der französischen Kernwaffentests im Pazifik 1995 oder bei der (geplanten) Versenkung der Ölplattform Brent Spar in der Nordsee durch den Shell-Konzern oder auch bei den europaweiten Streiks von LKW-Fahrern gegen als ungerecht empfundene Überstundenregelungen usw. Insgesamt hat die europapolitische Berichterstattung in den großen Zeitungen zugenommen, wenn auch die Boulevard-Presse und das Fernsehen noch weit hinterher hinken. Erste europaweite Medien, wie der Nachrichtensender Euronews, bestehen bereits. Ich würde auch europäische Verbände, die sich nicht mehr nur für die Belange von Industrie und Landwirtschaft, sondern auch für Umwelt, Gesundheits- und Verbraucherschutz, etc. einsetzen, zur europäischen Öffentlichkeit zählen. Sie sind längst entlang der europäischen Themen und Konfliktlinien organisiert. Die Zusammenschlüsse nationaler Parteien zu europäischen - wie beispielsweise SPE, EVP, u. a. - stecken zwar noch in den Kinderschuhen, sind aber dabei, sich zu entwickeln.
Die Vertretung der Bevölkerung der Mitgliedstaaten im Europäischen Parlament ist, wie Sie richtig sagen, verzerrt. Das hat strukturelle Gründe: Auch das kleinste Land (Malta) muss mit mindestens einem - wegen der Parteienvielfalt besser mit zwei oder drei - Angeordneten im Parlament vertreten sein. Würde man von dieser Basis aus die Zahl der Mandate pro Land proportional zur Bevölkerung hochrechnen, hätte das Europäische Parlament heute weit mehr als tausend Mitglieder. Das ist in Hinblick auf Effizienz, Übersichtlichkeit und Kontrollierbarkeit der parlamentarischen Arbeit nicht mehr handhabbar. Also bleibt nur eine Mandatsverteilung nach dem Prinzip der degressiven Proportionalität. Richtig ist, dass die heutige Verteilung der Mandate auf die Mitgliedstaaten auch danach nicht korrekt ist, sie wird aber auf der Grundlage des Reformvertrages von Lissabon zugunsten Deutschlands verbessert sein. Im Grundsatz wird es allerdings dabei bleiben müssen, dass die Bevölkerung der kleineren EU-Mitgliedstaaten im Europäischen Parlament stärker repräsentiert ist, als die der größeren. Um das zu kompensieren, sah der Verfassungsvertrag - wie jetzt auch der Lissabon-Vertrag - vor, dass bei den Abstimmungen im Ministerrat die Bevölkerungszahl eines Landes, z. B. Deutschland, eine größere Rolle spielen wird als bei der bisher vorgenommenen Gewichtung der Stimmen pro Land.
Die Behauptung von Altbundespräsident Roman Herzog hat keine seriöse Grundlage. Die Studie, auf die er sich damit beruft, gibt es nicht.
Den Ausspruch von Günther Verheugen halte ich für reinen Populismus. Er weiß natürlich, dass die EU eine Staatenunion ist und dass die Vertreter der Staaten im Rat durch demokratische Wahl in ihren Ländern legitimiert sind. Und er weiß auch, dass gerade in Deutschland die Landesexekutiven über den Bundesrat an der Gesetzgebung beteiligt sind. Dass das ein Demokratiedefizit ist, hat unserem Land bisher niemand vorgeworfen.
Mit freundlichen Grüßen
Klaus Hänsch