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Kirsten Kappert-Gonther
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Julian D. •

Sind Sie sich dessen bewusst, dass Sie mit Ihrem Entwurf zur Sterbehilfe die Versorgungslage für psychisch Kranke weiter verschlechtern und wahrscheinlich Wartezeiten von Jahren verursachen werden?

Sehr geehrte Frau K.,

Verwundert las ich über den neuen Gesetzentwurf zur Sterbehilfe vom 27.01.2022, an dem Sie beteiligt waren. Nachdem ich etwas darüber nachgedacht habe, bin ich einfach nur noch entsetzt.
Schon jetzt sind die Wartezeiten für einen Behandlungstermin bei Psychiatern Monate lang. Ein Gutachten zu erstellen bedeutet einen viel größeren zeitlichen Aufwand als ein gewöhnlicher Behandlungstermin. Nehmen Sie durch Ihren Entwurf daher nicht weitere, der nicht ausreichenden vorhandenen, Ressourcen für die Behandlung von psychischen Erkrankungen weg?
In den Niederlanden muss man zudem zwei Jahre auf eine Begutachtung durch einen Psychiater bei einem Sterbehilfegesuch mit psychischer Erkrankung warten. Das sind nur 2% der Fälle. Wenn alle Gesuche begutachtet werden müssen, muss sicher länger gewartet werden. Kommt das nicht einer Verhinderung gleich?
https://www.dutchnews.nl/news/2020/09/euthanasia-centre-has-two-year-wait-to-assess-mental-health-complaints/

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr D.,

vielen Dank für Ihre Frage. Die Grundlage für eine selbstbestimmte Entscheidung für einen assistierten Suizid ist, dass diese frei von inneren und äußeren Drucksituationen getroffen wird. Drucksituationen sind beispielsweise psychische Erkrankung, Angst vor Armut oder Angst vor mangelhafter Pflege. Darum muss eine gesetzliche Regelung zum assistierten Suizid immer von einem entsprechenden Schutzkonzept flankiert werden. Wir wollen den assistierten Suizid ermöglichen, aber nicht fördern. Vulnerable Gruppen sollen geschützt werden. Dafür werden besonders gefahrträchtige Angebote der Sterbehilfe unter Strafe gestellt. Das ist explizit durch das Urteil des Bundesverfassungsgericht gedeckt. Das BVerfG hat dem Gesetzgeber überlassen, im Rahmen des Urteils, die Suizidhilfe gesetzlich zu regeln. Dabei hat der Gesetzgeber insbesondere bei einer uneingeschränkten Suizidhilfe eine Gefahrenprognose anzustellen. Besteht eine Gefahr für die Autonomie von Menschen mit Suizidgedanken, ist ein legislatives Schutzkonzept notwendig.  In Nachbarländern wie der Niederlande oder Belgien steigt mit dem Angebot der Suizidassistenz auch die Anzahl der Suizide.

Die von einer interfraktionellen Gruppe von Abgeordneten, in der ich mich engagiere, vorgeschlagene strafrechtliche Regelung greift, wenn Angebote der geschäftsmäßigen Sterbehilfe die prozeduralen Sicherungsmechanismen aus psychiatrischen Untersuchungen, Beratung, Mehraugenprinzip und Wartefristen nicht einhalten. Für terminal Erkrankte sollen verkürzte Wartefristen gelten. Die Selbstbestimmung von Menschen mit Suizidgedanken muss geschützt werden. Menschen in Krisensituationen müssen Hilfe bekommen und dürfen nicht allein gelassen werden. Deswegen soll nicht allein das Angebot der Suizidassistenz, sondern vor allem die Suizidprävention gestärkt werden. Das bedeutet, dass es ein bedarfsgerechtes Angebot geben muss, sowohl bei der ärztlichen sowie psychotherapeutischen und pflegerischer Begleitung wie auch hinsichtlich individueller Beratung, abhängig von den Ursachen und Treibern der Suizidgedanken. Bestehende Versorgungsengpässe bspw. in der Psychotherapie müssen deswegen angegangen werden, damit Menschen, die Hilfe brauchen, sie auch bekommen können. Aus einem Versorgungsengpass abzuleiten, dass Menschen mit Suizidgedanken einfach direkt assistierten Suizid durchführen sollten, halte ich für eine gefährliche Vorstellung, die eher einer Verwertungslogik entspricht als der Bemühung, Betroffenen die bestmögliche Hilfe zukommen zu lassen. Kein Mensch sollte vom Staat das Signal bekommen, er oder sie sei überflüssig und werde nicht gebraucht.

Lange Wartezeit auf einen Ersttermin bei einem*r Psychotherapeut*in sind ein ernstzunehmendes Problem. Im Koalitionsvertrag haben wir uns deswegen auch darauf verständigt, die Behandlungskapazitäten in diesem Bereich durch eine Reform der Bedarfsplanung auszubauen. In diesem Sinne werden wir darauf hinwirken, die Wartezeiten in der psychotherapeutischen Versorgung zu verkürzen. Im Zusammenhang ist psychiatrischer Sachverstand erforderlich, um der autonomen Entscheidungsfindung entgegenstehende Umstände auszuschließen. Auch unter dem Aspekt der Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit des Entschlusses, das eigene Leben zu beenden, ist eine Wartezeit angemessen.

 

Mit freundlichen Grüßen,

 

Kirsten Kappert-Gonther

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