Ist das unten beschriebene Vorgehen von Eltern und Krankenkasse tatsächlich mit dem verabschiedeten Recht vereinbar? Mir fehlen die Worte...
In einem Kinderärzte-Intranet wurde folgende Frage gestellt: "Hallo,
in meiner Praxis wurde ein Säugling vorgestellt, bei dem die Eltern das
Geschlecht als divers angegeben haben.
Im U-Heft wurde das Geschlecht weg getippext, auf der VK ist divers als
Geschlecht angegeben.Anatomisch ist eine eindeutige Geschlechtszuordnung möglich.
Mein erster Gedanke war, dass die Festlegung als divers ja mindestens
genauso problematisch für ein Kind ist, wenn es sich nicht selber divers
fühlt, wie ein nicht selbst gefühltes anatomisches Geschlecht.
Wie groß mag die Wahrscheinlichkeit sein, dass dieses Kind sich nicht
seinem anatomischen Geschlecht zugehörig fühlen würde und sich
tatsächlich selbst als divers einordnet.
Macht man dieses Kind nicht eher zum Außenseiter?
Ich habe gemerkt, dass mich diese Situation sehr beschäftigt und bin
sehr gespannt, was Sie dazu denken."
Mich interessiert Ihre Haltung dazu. MFG
Michael K., Kinder- und Jugendarzt
Sehr geehrter Herr K.,
vielen Dank für die Zuschrift. Die Möglichkeit, 'divers' als Geschlechtseintrag zu wählen, zielt darauf ab, mehr Freiheit und Selbstbestimmung in Bezug auf die Geschlechtsidentität zu ermöglichen. Die Entscheidung der Eltern, das Geschlecht als 'divers' anzugeben, kann als Ausdruck ihres Wunsches gesehen werden, dem Kind einen offenen Raum für die Entwicklung jenseits von normierten Geschlechtsidentitäten zu geben. Es stimmt, dass die Wahrscheinlichkeit statistisch gesehen gering ist, dass sich das Kind später als nicht-binär oder divers identifiziert. Jede vorschnelle Zuordnung zu einem binären Geschlecht kann ebenfalls problematisch sein, wenn sie nicht der späteren Selbstwahrnehmung des Kindes entspricht. Der Eintrag 'divers' kann als Chance gesehen werden, das Kind ohne starre Geschlechterrollen und -normen aufwachsen zu lassen, die auch mit gesundheitlichen Risiken einhergehen können. Mit zunehmender gesellschaftlicher Akzeptanz für geschlechtliche Vielfalt wird auch die Wahrnehmung von 'divers' als Außenseiterposition abnehmen. Wichtig wird sein, das Kind in seiner Entwicklung zu unterstützen und offen für seine eigene Geschlechtswahrnehmung zu bleiben. Hier dürfte natürlich ebenfalls keine Einengung passieren. Als Kinderarzt wissen Sie natürlich, dass Kinder bisweilen Gender-Zuordnungen sogar überbetonen, indem sie sich entsprechend kleiden oder im Spiel bestimmte Verhaltensweisen ausagieren. Aus meiner psychotherapeutischen Sicht sollten einem Kind hier die Freiheit gelassen werden, den eigenen Vorlieben zu folgen. Als Arzt werden Sie die Eltern in einer solchen Situation, wie sie im Intranet beschrieben wurde, ermutigen, ihr Kind liebevoll und ohne Druck zu begleiten und gleichzeitig das Kind in seiner Entwicklung unterstützen. Vielleicht könnten Sie die Bedeutung einer offenen Kommunikation über Geschlechtsidentität betonen, wenn das Kind älter wird. Das Selbstbestimmungsgesetz unterstreicht, dass jeder Mensch das Recht hat, seine Geschlechtsidentität selbst zu definieren. In diesem Sinne ist die Entscheidung der Eltern als Versuch zu sehen, ihrem Kind dieses Recht von Anfang an einzuräumen. Ihre Sensibilität für dieses Thema finde ich sehr wertvoll. Ich würde mich vermutlich bei Bedarf mit Expert*innen für Geschlechtsidentität im Kindesalter austauschen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Kirsten Kappert-Gonther