Frage an Kerstin Müller von Frederic R. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Müller,
in den letzten Wochen ist aufgrund der veränderten Parteienlandschaft die Diskussion über eine Veränderung unseres Wahlrechtes vom Verhältnis-/Mehrheitswahlrecht zum alleinigen Mehrheitswahlrecht aufgekommen. Man will damit eindeutigere Wahlergebnisse erziehlen, und so der gegenwärtigen Tendenz zur (ideologisch) ungewollten großen Koalition bzw (demokratisch schwierigeren) Dreierkoalition entgegenwirken.
Mich würde interressieren, wie sie als angehörige einer der drei kleineren Parteien zu diesem Thema stehen.
vielen Dank im Vorraus
Sehr geehrter Herr Roux,
vielen Dank für Ihre Frage auf Abgeordnetenwatch.de. Natürlich beschäftigen uns die immer wieder angeregten Diskussionen zur Einführung des Mehrheitswahlrechts als kleine Partei besonders. Wir halten das Mehrheitswahlrecht aber nicht nur aus parteitaktischen Gründen für falsch, sondern auch aus einfachen demokratischen Gerechtigkeitsgründen.
I. Geltendes Wahlsystem
In der Bundesrepublik gilt gegenwärtig das System der personalisierten Verhältniswahl. Entscheidend bestimmt sich die Zusammensetzung des Parlamentes letztlich nach den Grundsätzen der Verhältniswahl; d.h. danach wie viel Prozent der Stimmen eine Partei bei den Wahlen erhält.
Im Einzelnen lässt sich das Wahlsystem grob wie folgt skizzieren:
1. Von den 589 Abgeordneten des Parlamentes werden 299 Abgeordnete in den Wahlkreisen direkt gewählt (Personalisierung).
2. Die Parlamentsitze werden im Übrigen danach verteilt, wie viel Prozent die Landeslisten der Parteien erhalten haben (Verhältniswahl).
3. Von der für die Landeslisten ermittelten Zahl der Abgeordnetenmandate werden die Sitze abgezogen, die die Partei in Wahlkreisen errungen hat (§ 6 Abs. 4 BWG). Entscheidend für die Besetzung des Parlamentes ist also im Wesentlichen das Element der Verhältniswahl.
Eine zu weite Aufsplitterung der Parteienlandschaft und damit auch eine erschwerte Regierungsbildung sucht das geltende System durch die Fünf-Prozent-Hürde (Mandate erhalten grundsätzlich nur Landeslisten von Parteien, die im Bundesgebiet 5% der Stimmen erhalten haben) zu verhindern.
II. Zur Diskussion um das Wahlsystem
1. Die Grundsatzdiskussion
Das Grundgesetz legt kein bestimmtes Wahlsystem fest. Es gibt nur allgemeine Wahlrechtsgrundsätze vor (wichtigster Grundsatz nach Art. 38 GG im vorliegenden Zusammenhang: Gleichheit der Wahl). Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber dabei einen relativ weiten Spielraum belassen und hält wohl auch – entgegen Stimmen in der Literatur – ein reines Mehrheitswahlrechtssystem (Zusammensetzung des Parlamentes durch Wahl von Wahlkreisabgeordneten) für zulässig. Vorteil dieses Systems ist, dass es im Bundestag stabile Verhältnisse sichert, weil sich in den Wahlkreisen dann in der Regel die Abgeordneten der großen Parteien durchsetzen und damit ein Zweiparteiensystem mit klaren parlamentarischen Mehrheiten entsteht.
Die Nachteile (wegen denen es manche für verfassungswidrig halten) dieses Systems sind jedoch extrem gravierend; die Vorteile des Verhältniswahlrechtes überwiegen deutlich. Argumente:
- Das Mehrheitswahlrecht führt fast zwangsläufig dazu, dass das Parlament nicht entsprechend der im Volk vertretenen Meinungen und Strömungen besetzt wird. Denn schon eine dünne Mehrheit in einer Vielzahl von Wahlkreisen führt zu einer übergroßen Repräsentation einer Richtung im Parlament.
- Das - das Grundgesetz beherrschende - Prinzip der repräsentativen Demokratie und der Volkssouveränität wird daher extrem beeinträchtigt, wenn das Parlament auf Grund des Mehrheitswahlrechtes nicht wirklich repräsentativ zusammengesetzt ist.
- Das Mehrheitswahlrecht sichert noch nicht einmal ab (siehe 1. Spiegelstrich), dass eine die Regierung tragende Mehrheit auch tatsächlich eine Mehrheit des Volkes repräsentiert (siehe z.B. Großbritannien).
- Dadurch dass ein solches System letztlich zu nur zwei großen Parteien führt, droht eine Versteinerung. Neue Probleme werden von den großen Blöcken nicht oder zu spät wahrgenommen, wenn sie nicht von neuen Bewegungen „bedroht“ werden, die eine echte Chance haben, diese neuen Fragen auch mit einer neuen Partei ins Parlament zu tragen. Beleg für diese These: Das Thema Umwelt und Die Grünen.
- Eine Versteinerung des politischen Systems in zwei großen Blöcken, zu der das Mehrheitswahlrecht führt, bringt letztlich keine Stabilität des Gesamtsystems (= Scheinstabilität). Sind Gruppen nicht im Parlament repräsentiert, kann dies dazu führen, dass Konflikte außerhalb des Parlamentes ausgetragen werden.
- Das Verhältniswahlrecht ist seit der Revolution von 1918 Bestandteil des deutschen demokratischen Systems. Eine Änderung würde daher mit Sicherheit zu schweren gesellschaftlichen Verwerfungen führen.
- Aus der jetzigen Situation lassen sich keine Argumente gegen das Verhältniswahlrecht ableiten. Auch in Fünf-Parteien-Parlamenten lassen sich Regierungsmehrheiten jenseits großer Koalitionen bilden, wie ein Blick in andere europäische Länder belegt. Dass es diesmal in Deutschland nicht ging, ist kein Argument dafür, dass dies dauerhaft so bleiben wird.
Das diesen Gründen lehnen wir die Einführung eines Mehrheitswahlrechts in Deutschland vehement ab und werden uns bei allen möglichen Gegebenheiten gegen solche Veränderungen einsetzen. Es würde uns freuen, wenn Sie unsere Argumente unterstützen würden.
Mit freundlichen Grüßen
Kerstin Müller, MdB