Kerstin Griese MdB
Kerstin Griese
SPD
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Frage von Katrin W. •

Frage an Kerstin Griese von Katrin W. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Griese,

mit Interesse las ich Ihre Antwort auf die Frage von Frau Baumann.

Ich persönlich habe eine starke Abneigung gegen solche pauschalen Aussagen wie: "Die europäische Integration dient den Interessen ihrer Mitgliedstaaten und ihrer Bürgerinnen und Bürger." Deutschland zahlt fast €10 Mrd. mehr an die EU, als es durch Leistungen wieder zurückerhält. Eine gewaltige Summe!

Aber ich entnehme Ihrer Antwort, daß sie von der demokratischen Legitimation der EU-Organe überzeugt sind. Laut Bundespräsident Roman Herzog beruhen ca. 80 % aller Gesetzesvorlagen im Deutschen Bundestag direkt oder indirekt auf Verordnungen und ähnlichen Verwaltungsakten der EU. Werden solche Verordnungen von den Mitgliedsstaaten nicht umgesetzt, kann und wird die EU ein Vertragsverletzungsverfahren eröffnen. An dessem Abschluß können hohe und andauernde Geldstrafen stehen.

Meine Frage:
Wenn 80 % der Gesetzesvorlagen im Deutschen Bundestag aus der EU kommen, welche Möglichkeit haben dann Sie als laut Grundgesetz freie Abgeordnete (bzw. der Bundestag als Gesamtheit) zu einer allein ihrem Gewissen verpflichteten Entscheidung bei den Abstimmungen zu kommen? Im Zweifel können Sie verhindern, daß EU-Vorgaben in deutsches Recht umgesetzt werden. Der Preis wären dann ggf. Milliarden-Zahlungen, die Deutschland aufgrund eines Vertragsverletzungsverfahrens an die EU zahlen muß. Können Sie diesen Umstand mit der Freiheit und Verantwortung Ihres Mandats vereinbaren?

Meine zweite Frage:
Demokratische Wahlen, der Grundpfeiler unserer Republik, sind relativ einfach definiert: Art. 38 I GG: "... gleicher ... Wahl". Ihnen dürfte bekannt sein, daß Wahlen zum EurParl nicht gleich und damit NICHT demokratisch sind. Wie stehen sie dazu und welche demokratische Legitimation messen sie dem EurParl unter diesen Umständen guten Gewissens noch zu?

Mit freundlichen Grüßen bedanke ich mich für Ihre Antwort,

Katrin Wahlitz

Kerstin Griese MdB
Antwort von
SPD

Sehr geehrte Frau Wahlitz,

vielen Dank für Ihre Nachfrage.

Zu Ihrem Eingangsstatement: Der Nutzen der EU für Deutschland ist schwer zu ermitteln. Deutschland exportierte im Jahr 2008 63 Prozent seiner Waren in EU-Staaten, 57 Prozent der deutschen Importe stammten aus EU-Staaten. Das zeigt, dass Deutschland ein großes wirtschaftliches Interesse an einem einheitlichen und freien europäischen Binnenmarkt hat. Die enge wirtschaftliche Verflechtung Deutschlands mit den europäischen Staaten muss in die Bilanz mit einbezogen werden, um den Nutzen der EU auch nur ansatzweise angemessen beurteilen zu können. Der Beitrag der EU zur Sicherung des Friedens in Europa lässt sich ohnehin monetär kaum errechnen. Die Tatsache, dass Deutschland zu den Nettozahlern der EU gehört, spricht noch lange nicht gegen die EU. Es ist im deutschen Interesse, die rückständigen (vor allem ost-) europäischen Staaten zu fördern, damit diese Staaten möglichst schnell wirtschaftlich aufholen. Davon kann Deutschland als starkes Exportland nur profitieren.

Zu Ihrer ersten Frage: Falls der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog tatsächlich annehmen sollte, 80 Prozent aller Gesetzvorlagen des Deutschen Bundestages beruhten auf EU-Recht, so liegt er falsch. Die Wissenschaft hat diesen „Mythos“ wiederlegt (vgl. Sie den Artikel von Annette Elisabeth Töller in der Zeitschrift für Parlamentsfragen Jahrgang 39 (2008), Seiten 3-17). Sie zeigt überzeugend, dass der durchschnittliche Anteil der EU an der Gesetzgebung des Deutschen Bundestages in seiner 17. Wahlperiode (2002-2005) lediglich knapp 40 Prozent betrug; während im Bereich Umwelt mehr als 81 Prozent aller Gesetzesvorlagen auf EU-Recht beruhten, ging im Bereich Forschung und Bildung kein einziges Gesetz auf einen EU-Rechtsakt zurück. Dieses Ergebnis erklärt sich durch die unterschiedlichen Kompetenzen der EU in den einzelnen Politikbereichen. An der Übertragung dieser Zuständigkeiten an die EU war der Deutsche Bundestag beteiligt, so dass bei jedem EU-Rechtsakt eine ausreichende demokratische Legitimation vorlag.

Zu Ihrer zweiten Frage: Selbst wenn Sie dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts folgen, das Europäische Parlament sei „gemessen an staatlichen Demokratieanforderungen nicht gleichheitsgerecht gewählt“, müssen Sie bei der Beurteilung der demokratischen Legitimität des EU-Rechts mit einbeziehen, dass jeder EU-Rechtsakt zumindest die Zustimmung einer Mehrheit der Mitglieder des Rates der EU gefunden hat. Die demokratische Legitimation der EU gründet sich somit auf der mehrheitlichen Zustimmung des Rates der EU und in den meisten Fällen auch auf einer Mehrheit des Europäischen Parlaments. Zudem bedürfen EU-Richtlinien der Umsetzung in nationales Recht durch den Deutschen Bundestag. Es gibt also eine ausreichende Anzahl deutscher Regierungsvertreter und Abgeordnete, die über jeden EU-Rechtsakt entscheiden.

Als Bundestagsabgeordnete kann ich bei jeder Abstimmung über jedes Gesetz entscheiden, ob ich dem Gesetz zustimme oder es ablehne. In meiner Entscheidung bin ich frei. Das trifft auch auf alle Gesetzesvorlagen zu, die auf EU-Recht beruhen.

Eine letzte Anmerkung: Das Vertragsverletzungsverfahren der EU dient dem Zweck, einheitliches europäisches Recht zu schaffen. Es ist Aufgabe der Bundesregierung und der regierenden Koalition, dafür zu sorgen, auf EU-Ebene im deutschen Interesse Einfluss auf die EU-Rechtsakte zu nehmen, so dass diese im Anschluss daran in Deutschland umgesetzt werden können. Das Vertragsverletzungsverfahren stellt jedoch keinesfalls die Rechte der Bundestagsabgeordneten in Frage.

Mit freundlichen Grüßen

Kerstin Griese

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